von Reinhardt Cornelius-Hahn
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29. November 2020
Das Coronaphon - Eine unerhörte Rede Er hatte alles gut vorbereitet. Der Betreiber des Theaters sagte nach recht kurzem Nachdenken zu, als Deinhardt ihm für die halbe Stunde auf der Bühne, mit Blick in den Saal, noch einhundert Euro Miete in die Hand drückte. Heute war es so weit. Deinhardt Coronius, der Redner, stand auf der Bühne, verneigte sich ein wenig und nahm hinter dem Tisch seinen Platz ein. Licht flammte auf. Der weiße Kegel hüllte Coronius ein, der grell angeleuchtet merkwürdig einsam und blass wirkend am Tisch saß. Er nahm das Manuskript, blätterte darin, nickte den Seiten zu, legte einen kleinen Stapel ab und nahm die erste Seite mit den Händen. Er begann daraus vorzulesen. Ohne Anrede kam er sofort zur Sache. „Bringt Corona die Menschheit um? Geht es nach Corona weiter? Wo kommt Corona her? Ist Corona von Menschen gemacht, wie ein Krieg und alle warten den nächsten Luftangriff ab, voller versteckter Angst, weil sie nicht wissen, wohin die nächsten Bomben fallen werden?. Ich sage: es ist höchste Zeit, dass es diesen Virus endlich gibt. Dass er gekommen ist, um uns zu heilen von der Maßlosigkeit. Ist das Zynismus, ist das, die Menschheit verachtend? Wie komme ich dazu, so etwas zu behaupten? Ich habe ein Buch über die Sucht geschrieben. Ein gutes Buch. Viele Leute haben es gelesen, fast unvorstellbar viele. Was ist Sucht eigentlich? Einfach erklärt, sie ist das Ergebnis einer Gelegenheit, die zur Gewohnheit führt, welche von der Triebhaftigkeit abgelöst wird. Triebhaft entschlossen wird Unleidliches und Unangenehmes verdrängt und nicht mehr kontrolliert. Der Süchtige verliert nach und nach den Überblick über alle Konflikte und Probleme, die ihn bedrängen. Er löst sie nicht mehr, und seine Lebenszeit wird von der Suche nach Suchtmittel und den Folgen des Rausches übernommen. So sucht er die Heilung von einem Zustand, den er selbst herbeiführt. Von der seelischen Abhängigkeit ist es nur eine kleiner Schritt, der zur Angewöhnung des Leibes in eine andere, neue Verstoffwechselung führt. Der Süchtige verwechselt sie nicht, er wechselt sogar die Welt. Die Abhängigkeit wirkt zwanghaft und bestimmt das neue Sein, welches von der Suche und dem Gebrauch des Stoffes verlangt wird, weil es der Körper schmerzhaft einfordert. Der veränderte Stoffwechsel, der unumkehrbar ist, er ist die Erkrankung an sich. Der Entzug entwickelt ein solch starkes Verlangen, dass er letztendlich alle Lebensumstände des Erkrankten bestimmt. Der Verstand vermittelt keine Einsicht und auch kein Mitleid für den Leib des Erkrankten. Der tiefste Fall des Süchtigen, der den Stillstand der Erkrankung nicht zulässt, ist der Tod. Der Kranke kann fast bis zuletzt wählen, falls er kein Korsakow-Syndrom hat, ob er dem Tod ein Leben ohne Suchtmittel vorzieht. Er kann nicht nur, er muss sich aus allen seelischen, gesellschaftlichen und körperlichen Verlangen, von der Erleichterung, auch dem Rausch, also tatsächlich vom Suchtmittel lösen. Trocken zu sein, wie es in der Alkoholikersprache bezeichnet wird, bedeutet aber auch, für alle anderen Süchte (es gibt wohl mehr als 30 Suchterkrankungen), den Verstand zu ernüchtern und ihn frei von der Unfreiheit eines zwingenden Verlangens, von unerfüllbaren Wünschen und sogar von Ideen zu machen, die der Süchtige nicht überschauen kann. Nur der Süchtige, der sich von seinem Suchtmittel lossagt und sich der Nüchternheit stellt, rettet sein Leben. Er kapituliert vor der Betäubung und vor dem Rausch, die ihn vor der Veränderung durch eine Verstoffwechselung das Leben scheinbar angenehm gemacht haben. Fantasie, Träume, Illusionen sind die wahre Gefahr für den Kranken. Die Nüchternheit und das Anerkennen der Wirklichkeit dagegen sind sein Glück. Dieses Glück in einer sich ständig betäubenden Welt zu finden, ist eine schwere Arbeit. Sie ist ebenso schwierig, wie Freude am Leib zu finden. Was Kindern gegeben ist, muss mühsam im Alter errungen werden. Die Liebe zu sich selbst ist nur dadurch zu erfahren, behütet und liebt man seinen Leib, der oft fälschlicherweise als Körper und damit als minderwertig bezeichnet wird. Er ist das einzige Haus, das der Mensch bewohnen kann. Der Leib ist ein Ort der Wärme und der Liebe und auch der Fürsorge. So einfach ist das! Ein Mensch, der sich nicht liebt oder seinen Körper nicht ehrt, ist ein Fremder, ein Ausgestoßener in seinem Selbst. Ein Mensch, der sich hasst, der ist für die Welt und für sich verloren. Seine Seele stirbt in langen Raten, die aus Zweifel und Hoffnung, aus Angst und Wut bestehen. Der Leib ist der Wirt, der Verstand ist sein Gast, und oft ist der Geist nur auf der Reise durch den Leib, um Lust oder Begierde zu empfinden. Der Reisende nennt sie Erfahrungen oder das Verlangen, was er sammelt und stillt. Parasiten und Viren suchen sich einen Wirt, um zu schmarotzen, sich zu laben oder um weiterleben zu können. Breitet sich ein Parasit zu sehr im Leib des Wirtes aus, so stirbt er ebenso, wie durch ein Virus das Leben des Wirtes verändert oder gar zerstört wird. Aber, wir haben es eben erfahren, auch der Verstand eines Menschen kann ein Parasit oder ein Virus sein, unterwirft er seinen Leib. Doch oft genügt das nicht, nur den eigenen Körper zu bezwingen oder zu unterwerfen, ihn also zweckdienlich herzurichten, weil das allein nicht den Verstand befriedigt. Er will immer mehr, um vielleicht das, was er edel Seele nennt, zu sättigen. Darum breitet sich das Denken, ebenso wie ein Virus, im Verstand aus, wird parasitär und hält sich für göttlich. Zwanghaft, ergreifend und umfassend wie eine Pandemie untersucht und vereinnahmt der Verstand die Verwertbarkeit der vorhandenen Ressourcen. Der Stamm der Menschen hat sich schon lange parasitär des gesamten Planeten bemächtigt. Die Menschheit saugt und schmarotzt die Erde aus. So, wie aber der Mensch lebt oder besser leibt und mehr oder weniger darauf achten muss, was sein Körper machen sollte oder tun müsste, um zu überleben, so sollte die Menschheit ihren Corpus, eben den blauen Planeten, auch sorgsam pflegen und behüten. Der Verstand, der Gast des Leibes, verlangt viel Leid und Lust von ihm. Was ist zu tun, damit er nicht daran stirbt? Das Leben eines jungen Menschen scheint ewig und unendlich zu sein. Der Verstand lernt es auch so, aber nach und nach erst, durch Einschränkungen, den Leib am Leben zu halten, bis er an seine Grenzen stößt. Darüber ist nur der Himmel, und er ist unbegrenzt. Dort kann sich der Leib nicht mehr erholen. Ohne Regeln und Grenzen gibt es keine Gesundheit. Sinnentleert wird ein Mensch einsam. Allein geblieben, verliert er nach schweren Erkrankungen sein Haus. Das Leben. Der Mensch hat nur einen Leib, die Menschheit bewohnt nur die eine Erde. Die Menschheit macht sich die Erde untertan, ohne Einsicht bis hin zur ihrer Zerstörung. Es gibt aber für einen Menschen kein zweites Leben, ebenso wie es für einen Menschen keine zweite Erde gibt. Was macht man mit einem kaputten Planeten, den wir aus Liebe mitunter auch unseren Stern nennen? Ein Mensch darf, kann oder muss sterben nach seinem Leben, er ist ersetzbar. Die Erde ist für die Menschheit aber unersetzlich. Das, was auch für einen Mensch mitunter gilt, das trifft auch für das Leben auf unserem Planeten zu.“ Deinhardt Coronius erhob sich. Seine Hände zitterten ein wenig. Er legte das Manuskript beiseite. Er sammelte seine Gedanken und versuchte sie freier darzulegen. „Ich habe mir vor vier Jahrzehnten selbst geholfen. Ich war verzweifelt und sah keinen Sinn mehr in allem. Die Sucht musste ich abschütteln und habe es langsam gelernt, zu verzichten und das Suchtmittel abzulehnen. Das hat mich geprägt. Es klingt oberlehrerhaft, ich weiß. Ich besaß doch nichts mehr, hatte nur noch das nackte Leben, wurde nicht geliebt, die Familie löste sich auf und alle meine Freundschaften gab es nicht mehr. Ich dachte mir, in der Wüste braucht man auch nur Wasser. Ich war ja noch da, ein psycho-sozial-somatisch Erkrankter. Fast ohne Hoffnung. Mitunter denke ich, das Leben auf der Erde besteht auch aus einer psycho-sozialen-globalen Erkrankung der Menschheit, die im Strudel der Gier, süchtig geworden, das gesamte gegenwärtige Leben auf dem Planeten und sich mit in den Tod treibt und reißt. Wir denken anders als wir leben dürften. Wer ist bereit, vor der Lüge und dem Selbstbetrug, mögen sie noch so gut oder glaubhaft sein, zu kapitulieren? So wie die Knochen marode sind, das Fleisch müde ist, das Blut dick und verseucht durch Sucht wird, so ist unsere Erde vermüllt, ist das Wasser verdreckt, ist die Luft verschmutzt. Es ändern? Loslassen, aber wie? Lügen, für wen? Betrügen, etwa sich selbst? Von hundert Menschen, die krankhaft süchtig werden, sterben 93 innerhalb von zehn Jahren ihren Tod, weil sie nicht kapitulieren, also aufgeben können. Sie glauben immer wieder, sie könnten den Tod überlisten, ihn kontrollieren oder einfach gesagt, von der Schippe springen. So ist das nicht, so geht es nicht! 93 von 100 sind nach zehn Jahren zutiefst abhängiger Sucht tot. Der Verstand besiegt den Leib, weil er dessen Leibhaftigkeit, die aus Essen, Trinken, Atmen und Bewegen besteht, nicht akzeptiert. Er ruiniert, schwächt und marodiert ihn, bringt ihn um. Den Krieg, den das Denken gegen den Leib führt, gewinnt der Verstand in dem Moment, wenn der Leib stirbt. Es ist der letzte und der einzige Sieg des Süchtigen, danach ist er verloren. Wie ist das mit unserem Planeten, und was ist zu tun? Welche Aufgabe hat die Menschheit, die wie ein Virus auf, über und um Erdball tobt? Hat die Welt, wie wir sie verstehen, eine Chance? Vielleicht noch eine oder zwei dramatische, globale Höhepunkte oder vielleicht zehn oder zwanzig Jahre hat der Planet nur noch vor sich. Die letzten klimatischen Katastrophen mit ihrer Kraft und Naturgewalt, die alle Menschen erleben werden, wird sie versengen, ertränken oder erschlagen! Uns bleibt nur noch die Kapitulation vor dem Überfluss, an dem wir ersticken. So wie die Überbevölkerung, die Armut, die Unbildung, die Rüstung und die Verschmutzung zugegeben werden müssen, so muss die Menschheit kapitulieren. Wir kapitulieren, lassen alles los, und wir bejahen die Bildung, die Abrüstung, die Sauberkeit im Wasser und die saubere Luft. Das wird für uns ein großer Verzicht werden, Ordnung zu schaffen (was für ein berühmtes Wort, das man mit Leben erfüllen sollte). Ordnung und Sauberkeit für unsere Kinder. Wie banal das klingt, aber es wird der Gewinn! Wir lösen uns von Religionen und Ideologien, die neues Missionieren auslösen möchten und neue Zukunft mit Hilfe von überirdischen Wesen oder Phantasmen versprechen. Wir retten unser Leben vor diesen Heilsversprechungen und Verschwörungen. Wir werden vor der Fauna und Flora kapitulieren, denn man kann nichts miteinander tauschen, es sei denn mit dem Verzicht, der als höchste Gunst angesehen werden muss. Eines gegen das andere zu tauschen ist nur möglich mit dem einfachen Angebot des nüchternen, natürlichen Verstandes, dem die Gier und der Besitz, die falsche Lust und die Wünsche, fernbleiben?“ Deinhardt Coronius spürte es, in den letzten Sätzen lag das Wesen und der Kern dessen, was er mit seiner Rede sagen wollte. Er versuchte im Saal das Publikum zu entdecken, um eine Reaktion einschätzen zu können, doch da war nichts. Das Licht war auf die Bühne gerichtet, kam von allen Seiten und war schattenlos. Geblendet senkte er den Kopf und trug weitere Gedanken aus dem Manuskript in langen, schwierigen Sätzen, vor. „Das Leben retten vor einer Zukunft, die uns umbringen könnte, das ist das einzig Wahre, was uns antreiben muss. Es ist die Vergangenheit, die einzig wahr ist. Sie gibt uns die Chance zur Besinnung. Wir können nur noch das tun, was wir wissen. Die Vergangenheit ist unbestechlich und unbesiegbar, in ihr wurde alles schon erlebt. Wie sollen wir leben, heute und jetzt, flüstert sie uns zu? Ja, eben heute aufräumen, jetzt alles säubern und im Augenblick, den Dreck und den Schmutz begreifen, ihn auch anfassen und entsorgen, weil er sonst unsere Zukunft verdirbt und erstickt, von der wir sonst nichts wissen. Es ist der Stillstand, der Augenblick, eben das Momentum, das wir zum Sieg führen müssen. So wie der Süchtige es sich jeden Tag sagen muss, heute nehme ich kein Suchtmittel zu mir, weil ich sonst sterben muss, heute bleibe ich trocken. So ähnlich müssen wir auf alle Erfahrungen zurückgreifen. Eine Chancen nutzen, um das eigene Leben zu retten. Menschen brauchen nur fünf Dinge, mehr nicht. Sie haben sie selbst in der Hand und können sie mit den Fingern abzählen: die Bleibe, das Wasser, die Luft, die Wärme und das Wissen darum. Sind das nicht Gründe genug, um leben zu wollen? Nur die Nüchternheit im Verstand macht Leben möglich. Sie macht die Freude am Jetzt klar, sie ist die Chance, Probleme zu lösen. Die Konflikte, die uns sonst unüberwindbar erscheinen, sie sind wie ein Berg, den wir jeden Tag mit Mühe besteigen müssen, um den Gipfel erreichen zu können, die müssen wir lösen lernen! Die Mühsal und Lasten, die uns Generationen aufgebürdet haben, tragen zu lernen, ist unsere Last, die zur Lust werden muss. Die Zukunft, an die wir glauben und die wir im Verstand als Idee und Wunsch tragen, sie ist zu schwer für uns, für die Menschheit. Wir tragen zu sehr an unseren Wünschen, sie sind auch das Tor zum Hass und zur Hetze, werden sie uns nicht erfüllt. Selbst musste ich das auch begreifen, sehr früh und noch sehr jung: Ich habe nur ein Leben und kein zweites. Das eine Leben sagte es mir nicht nur, nein, es schrie mir ins Gesicht, so sollst du leben! Mache nicht nur das, was du dir wünschst, mach das, was du sollst, mache auch mal nichts oder nur das, was du bezwingen kannst. Es reicht aus, einen kleineren Stein nach oben zu tragen oder zu rollen, und es wäre gut, da oben keine Aussicht zu erwarten ist, als die, die vielleicht nicht besser ist, als das Tal, aus dem du eben gekommen bist. Unser Planet ist wie unser Leben ein Geschenk auf Dauer, werden beide gepflegt und werden seine Wunden immer sofort geheilt. Darum müssen wir auch lernen, die Dinge loszulassen. Wir dürfen freudig vor der Göttlichkeit und Allmacht unseres Planeten kapitulieren, so lange es uns gibt. Vor seiner Schönheit und seiner Herrlichkeit ebenfalls. Warum auch nicht? Abstandnehmen durch Kapitulation. Zur Schöpfung gehören Demut und Verzicht. Man kann nicht alles sich zu Eigen machen oder mehr besitzen, als man braucht. Früher habe ich mir meine Arbeit, meine Freunde, meine Familie und sogar die Festigkeit meiner Gesundheit genommen. Ebenso wie die Menschheit, die sich alles nimmt und meint, es sei noch unerschöpflich viel von allem vorhanden, wohl wissend, es ist schon mehr verbraucht, als vorhanden ist. Wir nehmen uns das Doppelte von dem, was da ist. Wir zerstören die Hülle der Erde auf der Suche nach besonderen Erzen, wir verunreinigen das Wasser in den Flüssen, den Seen und den Ozeanen. Wir zerstören aus Habsucht die Welt der Tiere und der Pflanzen, und wir denken, das geht uns nichts an, das sind wir eigentlich gar nicht und wenn, es ist ja für uns da, wer sollte das sonst wollen, was es alles gibt? Das wird schon wieder, wie alles, weil sie, die Zeit, eben alle Wunden heilt. Nein, die Zeit heilt unsere Erde nicht. Entweder sie stirbt und wir mit, oder sie schüttelt uns ab durch ihre Kapitulation, die wir ihr aufzwingen. Sie wird uns nicht mehr tragen wollen. Warum auch sollte sie uns ertragen? Also Nachgeben auf beiden Seiten. Wir Menschen glauben, wir sind von Gott, aber wir werden bald auch von ihm verlassen sein, denn die Erde ist Gott, weil sie unsere Welt trägt. Bald haben wir keine Wälder, keine Luft mehr zum Atmen, kein Wasser zu trinken, und dann kommt die Zeit, die uns allen den Tod bringt, der viele Gesichter haben wird, aber nur ein Ende. Es sind nicht nur Durst und Hunger, nein, dazu kommen noch Hitze, Explosionen, Atomschläge, falls es die Geschichte der Menschheit am Ende gütig mit uns Menschen meint, weil wir für alles eine Ausrede oder Begründung brauchen, wie alle Süchtigen, die sie benötigen oder gar besitzen, kommt ein Komet oder ein Asteroid, und der macht Schluss mit dem Unglück, das wir über den Planeten und über uns gebracht haben. Zwar ist ein schlechtes Leben immer noch besser als ein guter Tod, der wird aber von einer besseren Ausrede sogar noch übertroffen. Süchtige ziehen ihrem Suchtmittel, in dem Falle der Gier, dem Neid und der Knechtschaft ihres Verstandes, den Tod vor. Er ist das kleinere Übel gegen den Verzicht, den ich hier Kapitulation nenne. Nur wenige Menschen begreifen, dass der Tod das Ende ist. Nur der nüchterne Verstand glaubt nicht an ein Leben danach. Er ist der Retter! Die Menschheit ist hohl, leer, krank und nicht nur gottverlassen. Sie ist auch selbstvergessen, aber nicht wie ein Kind, das träumt, sondern wie ein Mörder, der sich an das Töten gewöhnt hat, was es ja auch gibt. Die Tode der Menschheit stehen unmittelbar vor uns, wie der Leib eines Süchtigen, der eines Tages seinem Herren da oben, dem Verstand, sagt: ICH habe genug von dir und von meiner Angst um mein Leben. Darum verabschiede ich mich von dir. Ich morde dich, weil du mir den Atem für unser Leben nimmst. Mag das Leben in dir noch so betteln, bitten, flehen oder schreien. Ich werde dich nicht mehr tragen und dein Haus sein. Ich bringe dich um. Doch wer ist ICH? Da hilft nur die Einsicht in die Wirklichkeit, die den Verlust deutlich macht, schrill, entsetzlich und unüberhörbar. Das ist der nüchterne Verstand. Die Erde sagt auch, ich bin der Herr über eure Leben und ich bin auch der Todmacher. Ohne Nüchternheit im Verstand wird das keiner von euch begreifen, auch die nicht, die eben noch bereit waren zu behaupten, nicht krank zu sein. Jetzt kommt ein Virus und breitet sich pandemisch aus. Er ist eine Zäsur, die den Stillstand von uns allen erzwingt. Er ist der Asteroid, der einschlägt, wenn wir uns nicht wehren und seine Existenz nicht anerkennen wollen. Kontakte, Gewohnheiten, auch Schulden, sogar das Lachen und die Freude, sie werden verschwinden hinter dem Horizont im All, dorthin, wo schon immer der Alltag des Universums war. Die Botschaft der Pandemie ist einfach, sie ist unsere letzte Möglichkeit, nochmals, verdammt, wie oft schon, nun aber wirklich neu zu beginnen. Bleibt stehen, stoppt euren Willen und euren Fortschritt und haltet jede Veränderung auf, die nur Neues, aber nichts Anderes verlangt. Lebt nach meinen Regeln, sonst bringe ich euch den Herren Tod in Haus. Bisher konnten wir Menschen immer sagen, wir wussten zu wenig über das Leben, über das, was es mit uns macht, was es von uns verlangt. Wir konnten bisher gebrochen in die Zukunft schauen und deren Forderungen verfolgen, doch heute ist die Zukunft jetzt! Vergangenheit mit all ihren Erfahrungen und Zukunft mit ihren Vorstellungen, sie prallen aufeinander, heute, eben, jetzt und überall in der Gegenwart. Es ist noch gar nicht lange her, da bezeichnete man die Suchterkrankungen als Laster. Bald konnte man es lernen, sich selbst zu helfen, indem man anderen half, um so zu begreifen, was Hilfe eigentlich ist. Was ist Gerechtigkeit, was ist Menschlichkeit, was Verantwortung? Was sind wir uns wert? Zu oft schon kamen wir zu spät zu der Einsicht, versagt zu haben oder wollten es nicht wissen, was morgen sein wird. Wie sagt man, lobet den Tag und verrichtet eure Werke, damit ist genug getan. Eine Krankheit erzählt den einzelnen Menschen das, was er über sie wissen muss, und wie er sich verhalten sollte. Mit einer Lungenentzündung stellt man sich nicht nackt im Regen auf das Hausdach. Besser, man hört auf seine Krankheit, und man legt sich ins Bett. Wenn wir heute noch so wie starke, unbezwingbare Menschen leben wollen, so leben wir falsch. Corona oder Corvid19 sagt, egal wie wir diesen Virus nennen, wenn wir keinen Abstand halten und uns nicht voneinander trennen können und vor allem nicht loslassen wollen, so sind wir morgen tot. Die Pandemie verlangt es von uns. Das ist noch der einzige, wirkliche Schutz, um nicht durch die Unwägbarkeit eines banalen und auch erbärmlichen Todes sterben zu müssen. Fürchtet euch, das Ende ist nah, würde ein Seher sagen, der den Weinschlauch von der anderen Seite des Berges Golgatha nach oben auf die Spitze trägt. So wie der Mensch sich überflüssig machen kann, weil sein Leib den Verstand nicht mehr erträgt, so sind wir hier auf diesem Planeten auch unnütz und unerwünscht. Der Virus ist eine untote Kreatur, die winzig und gefährlich für das Leben aller ist. Nun haben wir Leben nicht nur in der analogen Welt, sondern auch in der digitalen Welt, hier leben unsere Gedanken und unser Wissen fort. So wie analoge Partikel in uns wirksam werden, so können wir uns auch mit digitalen Informationen, die unsichtbar aus Nullen und Einsen entstehen, gegen die Pandemie wehren. Mit diesen Informationen können wir eine Ehrlichkeit und Offenheit erzeugen, die uns allen hilft. Wir können uns über Corona hinaus verständigen. Nur so machen wir uns sauber, stark und öffnen uns füreinander, aber wir berühren einander nicht. Wir können Abstand halten, so wie der Süchtige, der seinem Suchtmittel fernbleibt. All das regelt die Demokratie mit ihren Ruf nach Würde, nach Gestaltung, nach Wahrheit und Offenheit. Sie sind die einzigen Gründe, ein sinnerfülltes Dasein zu versuchen. Die Demokratie ist der einzige Weg, eine Kapitulation vor der Übermacht der Natur und dem Selbstbetrug zu zivilisieren. Mich erinnert Corona an das Ende des 1. Weltkrieges“, hob Deinhardt Coronius die Stimme. „Nach diesem Krieg stand in Deutschland noch alles, die Fabriken, die Häuser, und die Straßen und Schienen waren befahrbar. Das Land schien unversehrt, aber es waren an den Fronten fünf Millionen junge Menschen gefallen, zerfetzt, zerrissen, im Chlor vergast oder zu Krüppeln gemacht. Die Kapitulation danach, sie musste kommen, aber sie genügte nicht. Es war vielleicht auch ein schlechter Vertrag auf die Zukunft. Die zweite Welle, um im Bild zu bleiben, sie war schrecklich. Die halbe Welt lag in Trümmern, der Faschismus hatte ganze Arbeit geleistet, 70 Millionen starben einen sehr erbärmlichen Tod. Der Krieg wurde bis zu seinem Ende auch wie ein Gesetz, wie unabdingbar hingestellt behandelt. Wie von Gott gewollt. Erst danach rechnete der nüchterne Verstand mit ihm ab. So könnte man auch die Pandemie beschreiben, sieht man nicht schon jetzt in ihr einen Neubeginn. Das Land, das unsere Eltern aufgebaut haben, es steht noch. Mitunter mussten damals die Menschen an die Angst vor der Neutronenbombe denken. Sterben im Atomblitz, doch in den Städten brannte noch das Licht, so hätte es fast kommen können, wäre da nicht eine Besonnenheit aufgekommen, die die Menschheit gerettet hat. Vielleicht war es auch der nüchterne Verstand, der das Leben schonte und für das Leben kämpfte. Heute sind wir am Ende jedes Wachstums und des Fortschritts angekommen. Wir müssen begreifen, wir sollten uns mit dem begnügen, was wir uns nehmen dürfen, von der Natur, von anderen Menschen. Könnte man nur die Zeit anhalten! Wir brauchen den Stillstand. Alles ist fast verbraucht, leer und weg. Bald gibt es nichts mehr, was man verteilen könnte. Nun fressen die Kinder unsere Revolution, ohne uns zu fragen. Wir haben ihnen zuviel Kuchen zum Essen gegeben. Es ist doch nicht zu viel verlangt, was ich einfordere, Zufriedenheit und Gesundheit für alle, und ich erwarte, dass man auch mit sich selbst gut ist. Nur so kann ich mir Leben und Überleben vorstellen, und nur so kann man Pandemien und Kriege besiegen. Eine Pandemie ist ausgebrochen. Sie grassiert weltweit. Doch auch der Rückblick in die Jahre ist erschaudernd und schön. Einerseits in der spannendsten Zeit der deutschen Geschichte gelebt zu haben. Kein Krieg. Noch keine Sintflut. Andererseits wieder die Flucht der Gesellschaft nach vorn, geführt von der Politik in ein neues WIR. Fünfmal wurde den Menschen das Ich, die Verantwortung über sich selbst, weggenommen und das kollektive Wir verlangt. Wir reden, denken, essen, riechen und hören anders. Das wurde versprochen oder verordnet. Die Ursache war denkbar einfach, aber furchtbar: 15 Kriege wurden in vierhundert Jahren geführt. Fast ausnahmslos gingen sie vom deutschen Boden aus. Ein Land, das keine innere Einheit besaß, zerstörte sich selbst und baute sich wieder auf. Es gibt kein vergleichbares Land auf dieser Welt, das ständig sein Wesen, seine Gesinnung und seine Werte so gewechselt hat, wie es die Deutschen taten. Heute haben sie das Ende aller Zukunftspolitik erreicht. Sie endet in dem lapidaren Satz: Wir schaffen das! Vielleicht liegt im Loslassen die neue Meisterschaft der Deutschen? Es kann sein, die Seuche Corvid19 erzwingt es. Die Kapitulation vor der Natur muss erfolgen, weil alle Vorräte zerstört worden sind. Die Erde ist nicht mehr unser Nest. Auch die Ideale sind unbrauchbar und verraten wworden. Jetzt führt uns die Pandemie nach unten. Tiefer geht es nicht. Der einzige Sinn deutscher Zukunft ist vielleicht ein nüchternes, aufgeklärtes und gerechteres Leben in Demut. Das große Saubermachen der Erde muss beginnen, so oder so. Doch keiner weiß, wie es aussehen soll, weil der Blick auf den Tag verloren gegangen ist...“ Coronius hielt inne. Das war seine Rede an die Welt. Der Betreiber, der wegen Corona das Klubhaus schließen musste, kam zu ihm. Deinhardt fragte, ob ihm die Rede gefallen hätte? „Ja, schon“, erwiderte der. „Doch was ist zu tun?“, wollte er von Deinhardt Coronius nun wissen. „Sie hören mir alle nicht zu. Auch Sie nicht. Die Zukunft findet nicht mehr statt. Wir müssen vor der Zukunft kapitulieren. Sie loslassen - endgültig! Unser Ziel ist die Gegenwart, die Qualität des Lebens. Dafür setzen wir alle Kräfte ein. Die Menge ist unser Feind. Alles muss besser werden, jeden Tag und nicht morgen, nicht im Plan und auch nicht in der Hoffnung. Was wollen Sie und ich mit ungenießbarem Wasser, mit heißer Luft, mit hohlen Verstand und leerem Bauch? Uns kann auch kein Krieg mehr helfen. Sie wissen doch, was ich meine?“, antwortete Coronius unwillig. „Darf ich das Bühnenlicht ausmachen?“, fragte der Hausherr. Deinhardt Coronius nickte und legte das Manuskript zusammen. Im Saal saß kein Mensch. Niemand durfte heute hier sein. Deinhardt fühlte sich einen Moment entsetzlich allein, doch er verbeugte sich vor den leeren Plätzen, den Rängen und Logen. Danach drehte er sich um und trat ab.