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Reinhardt O. Hahn An der Marienkirche 06108 Halle (Saale) Telefon: 0160 930 159 16
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Rede des Schriftstellers Reinhardt O. Hahn zum Volkstrauertag in der städtischen Gertrauden Kapelle.
Meine Damen und Herren! Wir haben uns am Volkstrauertag hier zusammengefunden, um der Opfer von Krieg und Gewalt zu gedenken. Ich bin im März 1947 geboren. Später hörte ich, der Winter 1946 - 1947 wäre der härteste Winter des 20. Jahrhunderts gewesen. Das war mein Lebensbeginn und es sollte noch mehr geschehen in einer Zeit, in der das Wort Klima noch ein wissenschaftlicher Begriff gewesen war. Der Sommer 1947 war der zweitwärmste aller Zeiten seit der Temperaturerfassung und noch etwas möchte ich dazu fügen, in meiner Generation gab es in „Mitteleuropa“ keinen Krieg. Ich gehöre der ersten Generation an, die vielleicht gelebt hat ohne scharfe Granaten, Brandbomben, legalisierten Morden und vor allem ohne unmittelbare Furcht vor dem plötzlichen, gewaltsamen Tod. Lebt meine Generation in einem goldenen Zeitalter? Kein Hunger? Keine Angst? Kein Krieg? 76 Jahre Gewöhnung an einen Frieden, den man vielleicht bezahlt hat? Ja, es gab sie, die Opfer in meiner Familie. Vier Brüder meiner Mutter starben im II Weltkrieg und auch mein Vater, der 11 Verwundungen in fünf Jahren nach Hause trug und nur weinte, erzählte jemand eine Geschichte über den Krieg. Vater wurde nie mehr gesund. Fragte man ihn nach dem Krieg, so schob er das Hemd über den Gürtel etwas hoch oder er krempelte das Hosenbein nach oben. Er hinkte und der Splitter im Kopf, der brachte ihn 1960 nachträglich um. Uns Kindern sagte man, der Splitter sei im Kopf gewandert. Da gibt es aber noch ein Opfer, mein jüngerer Bruder. Er ist 2007 verstorben. Wie konnte das passieren? 1964 wollte er im Winter über die Havel nach Westberlin, er wurde angeschossen. Sein Ziel war unsere Mutter, die im Westen war. Mein Bruder hielt das eben weniger aus als 1ich, ohne Mutter und Geschwister zu sein. Die Teilung unseres Landes war sein Problem und es war ein Problem aller und auch der Politik. Mein jüngerer Bruder wollte frei sein. Dieser Wille brachte ihn anderthalb Jahre nach Torgau, zweieinhalb Jahre Rüdersdorf in die Kalkbrüche, und er wurde als renitent eingestuft. Später ging er auf Jahre in die Haft, er war in der Schwarzen Pumpe und später noch in Bautzen I. Erst 1989 kam er weg von diesem Leben und er war so geschwächt, wie einst unser Vater. Nur, er war ein Opfer der neuen, der sozialistischen Gewalt. Meine Mutter, eine mutige Frau und ein Mensch mit vitaler Lebenskraft, lebte bis 2010. Heute kann ich nur um meine Mutter wahrhaftig trauern. Ihr Tod mit 93 Jahren war mit Trost und mit erfüllter Liebe verbunden. Den Tod meines jüngeren Bruders kann ich bis heute nicht wahrhaftig betrauern. Da ist noch Wut in mir auf das geteilte Deutschland, auf die Nachkriegszeit und auf den, wie man ihn nannte, antifaschistischen Schutzwall. Vielleicht gibt es bald ein Gesetz gegen Wut oder Zorn, gegen Hass haben wir ja schon eins erdacht. Oder vielleicht ein Gesetz für die Schuld, eines gegen die Liebe und eine staatliche Pflicht zur ewiglichen Buße? Wir hätten es doch vielleicht alle leichter, überließen wir die Ethik und die Moral dem Gesetzgeber? Noch früher war das noch anders, vor den Verboten gab es Gebote: Du sollst nicht töten - zum Beispiel. Nicht allein die Strafe, erst der Tod ist der letzte Ausweg aus lebendiger Schuld. Schuld kommt und geht mit Menschen und nicht mit Kollektiven oder Nationen. Wir Menschen haben uns darauf geeinigt, nur das Gesetz oder der Reue, sie erteilen uns - Strafen und Sühne - auch denen, die sich selbst nicht ertragen möchten und die, die eigene Schuld anderen zuweisen wollen. Auch sie werden wegen Gewalt und Tod, die sie an ihre Opfer 2ausübten, wegen ihrer Schuld verurteilt und zur Verantwortung gezogen. Es blieb für Täter der Weg der Reue, Buße und Sühne, sonst war die gesamte Zukunft ihres Lebens verspielt. Nicht mehr und nicht weniger. Schuld ist also ein lebendiges Ding im Verstand, sie hat auch eine Sprache die heißt auch, das Gewissen. Wie steht es sonst um die Schuld? Wer sieht sie ein, wer versteht sie? Zwischen Opfer und Täter befindet sich der tiefe Abgrund der Schuld. Man kann frühe oder vergangene Schuld auch als Ermahnung und als Erinnerung begreifen, sie sind ein ständiger Lern- und Verständigungsvorgang der Lebenden. Wir gedenken der Opfer und begreifen so auch die sonst unfassbare Schuld der Täter. Wird der Umgang mit Schuld als Erinnerung, als Gedächtnis und als Ermahnung nicht bewahrt und nicht erlernt oder gelöscht, so wird sie nie ein Eigentum des Verstandes, zum Gewissen, das untrennbar mit dem Denken und dem Leben für eine gedeihliche Zukunft verbunden ist. Ich könnte aber auch die Schuld für andere und für deren böse Taten auf mich nehmen. Kann Schuld sogar unverschuldet mir gehören? Bin ich als Enkel meines Großvaters an seiner Schuld schuldig? Er war mit dem Bajonett an der Front, gegen die Franzosen ging es zur Sache. Er verlor nur einen Arm. Trage ich seine Last? Habe ich sie geerbt? Schuld, an die ich nicht beteiligt war und an die ich mich persönlich nicht erinnern kann. Ist das auch meine Schuld? Neun, natürlich nicht! Es ist also die Sache der gesamten Politik und der Gesellschaft, die Schuld der Täter und deren Opfer, von den Lebenden und deren Unschuld durch das Mahnen und Erinnern zu vergegenwärtigen. Sie, die Opfer und deren Täter, sie werden nicht vergessen. Darum sind wir hier. 3Schuld wird immer jetzt gelebt und im Augenblick gelebt, in der Person, in der Familie und in der Heimat des Menschen. Schuld ist eben nicht das Geregelte, das Normierte, das auswendig Gelernte und Eingeflößte. Schuld ist auch kein GEN. Ob man es „Preußisch“, „Eichmann“ oder „Nazi“ nennen möchte. Mein Großvater war ein Täter, der schon lange vor dem endgültigen Zusammenbruch mit seinem Gewissen in Konflikt geraten war. Aber, er hat seine Schuld weder meinem Vater noch mir vererbt. Das wäre so, als würde man auch Recht und Unrecht, Liebe und Leid oder auch Scham und Trauer und alles sonst von einer Person oder Nation zur nächsten vererben können. Wir können die Moral und Ethik eine Person - eines Menschen - nicht erben, wir können aber unser Verhalten und unsere Werte auf eine Erinnerung einstellen, die zur Geschichte wird. Das ist die Lehre aus historischen Verbrechen, Ungerechtigkeiten und Kriegen. Sonst hätten sich in anderen Familien oder Menschengruppen auf dieser Welt auch der Mut und die Einheit vererbt. Sie wären ebenso selbstverständlich wie die Freiheit, die Brüderlichkeit und die Gerechtigkeit unter den Völkern. Es gibt kein GEN für die Freiheit, aber es gibt die Vorstellung vom Freisein! Schuld ist also kein Ablass, kein Geschäft oder eine Sache mit der man Handel betreibt. Weder für die Vergangenheit und auch nicht mit der Zukunft, würde Martin Luther sagen. So ist es! Schuld, Scham, Schande, Buße, Reue oder Sühne sind absolut menschlich. Sie haben mit der Natur nichts zu tun. Es sind menschliche Regeln, die ein generelles Verfallsdatum haben. Das ist der Tod. Jede Generation muss Erinnerungen immer wieder neu erstreiten und erarbeiten. Tat, Schuld und Gewissen bedingen einander. Sie bleiben nur lebendig durch die Übernahme einer Verantwortung. 4Fünfmal anders reden, denken, essen, riechen, schmecken, fühlen und berühren, daraus bestand in den letzten hundert Jahren der Inhalt des jeweiligen Lebens. Es gibt kein vergleichbares Land auf dieser Welt, das in hundert Jahren fünfmal das Wesen, die Gesinnung und seine Werte so gewechselt hat, wie es die Deutschen taten. Können wir uns das nicht verzeihen, können wir nicht mit uns befreundet sein, können wir uns nicht leiden oder gar lieben? Ich habe die Menschen in unserem Land schon fast ein dreiviertel Jahrhundert kennengelernt; in Krefeld und in Bremen, als Flüchtling in Kasernen und Turnhallen, als Kind in Heimen, in Trinkerhallen, in Anstalten und Kliniken, in Halle an der Saale und in Leuna und Buna, im Chemiewerk, in Dresden, in Berlin und in Neuruppin und auch in Luthers eigenem Land. In einer psychiatrischen Anstalt geht es mitunter toleranter zu, als unter Deutschen, die gegensätzliche politische Auffassungen über Schuld und Sühne vertreten. Deutsche wollen keine Schuldigen sein. Die heute leben, sie sind es ja auch nicht. Aber, sie befassen sich mit vergangener Schuld, als wären die Schuldigen, das kommt ja vielleicht noch vereinzelt vor, noch unter uns. Was sind das für Menschen, die zwar keine Verantwortung über ihr Leben übernehmen wollen und die sich nicht frei sein möchten von historischer Schuld. Sind das Menschen, die der Staat an die Hand nehmen und in die Zukunft führen soll? Oft scheint es so, man darf nur in einer Gruppe, in der man die eigene Einsamkeit weniger bemerkt, die Welt ändern dürfen? Hauptsache es geht gegen die anderen. Wie also befreit man sich aus Schuld, die man sich selbst oder unbekannten anlastet? Ich meine, man muss mit sich selbst ins Gerede kommen. Sei es aus ungeklärten Schuldgefühlen oder auch aus Unschuld. Die Ehrlichkeit und nicht die Hörigkeit weist den Weg in die Zukunft. Das gilt nicht nur für mich allein, jeder ist dazu aufgerufen, zuerst in sich selbst den 5Frieden zu suchen. Nur dieser Friede schafft Frieden und entbehrt neue Schuld! Ja, ich bin nach den Krieg geboren. Ich lebe in einem GOLDENEN Zeitalter. Ich habe keine Schuld an Bauernkriege, Weltkriege oder Befreiungskriege, aber ich habe ein Gewissen. Ich bin frei und darf erinnern und ich kann ehren, sei es ein durch ein Denkmal, eine Tafel, ein Buch oder sei es nur durch ein Gespräch oder eine Rede in diesem Haus! Sich selbst befreien von Last oder Schuld ist immer der schwerste Weg überhaupt durch das Leben. Darum darf vergangene Schuld keine geborgte Ware aus den Regalen der schlechten Verarbeitung aus der Geschichte sein, ständig aber im digitalen Massenangebot für unselbstständige Menschen, denen nicht gelehrt wurde, sich ihre Verstandes zu bedienen. Wir, die heute Lebenden, haben keine Schuld an diesen Kriegen. Wir würden aber neue Schuld laden, wollten wir uns nicht daran erinnern und nicht unser Gewissen mahnen. Deutschlands Kriege und Deutschlands Teilung haben mir das einfache Leben genommen. Alles ist geteilt, alles ist politisch und alles ist belastet durch fünf Gesellschaften, die es in den letzten hundert Jahren gab. Der Sündenfall in meinem Leben? In einer Sekunde ist mein Schicksal entschieden worden. So hat es einen anderen Weg nehmen müssen. Meine Mutter hat am 16. Juni 1953 einen Russischen Soldaten erschlagen. Ich weiß nicht, ob es gerecht war, was sie getan hat. Es hieß, sie habe sich als Frau gewehrt. Ich war ein Kind und sah zu. Meine Mutter hat nach der Flucht nie wieder den Boden der DDR betreten. Bis zu ihrem Tod nicht. Als ich sie 2010 zum letzten mal in Krefeld sah, da erzählte sie mir, je älter man wird, je schneller vergehe das Leben. Ich erwiderte, sie sei doch schon sehr alt geworden und spiele immer noch Skat und gewinne dabei gegen den Pfleger und mich. Und, um 6besonders klug zu erscheinen sagte ich: In diesen Tagen bezahlen die Deutschen die letzte Rate des Versailler Vertrages, der 1920 in Kraft trat, da warst du schon drei Jahre alt, sie wisse schon, das alte Foto ihrer Eltern, der Großvater mit dem leeren Ärmel der Jacke, das Foto, welches sie mir geschenkt habe vor ein paar Jahren.... Da wollte sie von mir wissen, ob sie noch Schulden hätte aus diesem Vertrag. Natürlich nahm ich ihre Frage ernst. Nein, versicherte ich ihr, denn ich wusste, sie hatte in ihrem ganzen Leben nie so richtig Geld gehabt und für alles bezahlt. Ihre gesamte Zeit bestand fast nur aus Krieg, Inflation, Aufbau, Schuld, Gewalt und Angst... Anders als meine Zeit, an diesem Tag im November 2021. Was mir bleibt? Ein ahnungsvolles Betroffensein und eine tiefe Entschlossenheit für das Erinnern und für das Mahnen. Das ist die Aufgabe meiner Generation... Danke....
Entschuldigungsschreiben der
Robert-Havemann Gesellschaft
Der "versehentliche" Rufmord, der sich 33 Jahre im Oppositionsarchiv unter Kurt Hager befand und mindestens zweimal die Relaunchs überstanden hat!
Unfassbar, unglaublich und nicht zu begreifen.
Neuer Text
So wird der stoffliche Inhalt im Staatsarchiv der Bundesrepublik wird von der MZ im Jahre 2011, die dritte Auflage, so erfasst und beschrieben. Erst 2024, nach 33 Jahren erst Klarheit geschaffen, wer und was der MfS Offizier war-
Halle/MZ. -
Die Mitteldeutsche Zeitung „Nie habe ich gespürt, dass das Volk Angst vor dem MfS hatte. Die Stasi hatte vor dem Volk mehr Angst als das Volk vor der Stasi. Uns werden Arbeitsweisen untergeschoben, mit denen wir nie etwas zu schaffen hatten.“
Wer macht solche Aussagen? Laut Untertitel ein Stasi-Offizier, später Major, M.B. genannt.“ Notiert“ und gefiltert für eine „Erzählung“ durch den halleschen Autor Reinhardt O. Hahn. Das Buch (bereits 1990 mit anderem Untertitel im Mitteldeutschen Verlag erschienen) liest sich wie ein Protokoll, ein ungeschminkter Klartext aus hundert Widersprüchen.
Die Arbeit mit den Menschen und gegen die Menschen habe ihn „mehr und mehr“ beschäftigt, sagt der Major. „Oft fehlten mir und anderen Mitarbeitern die Argumente, aber das Gesetz war auf unserer Seite: Diese Menschen mussten bekämpft werden. Mit aller Macht. Es gibt Menschen, denen muss man ihr Glück aufzwingen, sonst kapieren sie es nicht. Vielleicht ist das falsch, ich weiß es nicht...“
Der „Hauptgegner“ und „hauptschuldig an der Wende“ sei die Kirche gewesen. Dort „formierte man sich, dort wurde Staats-zersetzendes Material vervielfältigt, Umweltbibliotheken eingerichtet, dort kristallisierte sich die oppositionelle Bewegung. Der Kirche gegenüber waren wir fast machtlos. Ich finde, sie hat ihre verantwortungsvolle Stellung im Staat schamlos ausgenutzt. Neben den künstlerisch arbeitenden Intellektuellenwaren es Pfarrer, die uns die Arbeit besonders schwer machten. Umweltschützer waren die Aktivsten. Ihre Fahrrad-Demos unter selbstgefertigten Schutzmasken, der Kampf gegen Straßen in Waldgebieten(...) der Streit um einen einzigen Bau minder Stadt.“
Inoffizielle Mitarbeiter habe der Volksmund ungerechtfertigter Weise als Spitzel bezeichnet“, denn fast alle informierten uns, weil sie überzeugte Staatsbürger waren oder weil es ihrer Karriere diente. Einige arbeiteten zu Wiedergutmachung: Sie waren straffällig geworden oder hatten eine Straftat beabsichtigt.“ Als IM seien Schriftsteller, Wissenschaftler und Pfarrer „immer interessant“ gewesen, hätten sich aber kaum zur Mitarbeit gewinnen lassen. In der Kirche „sprachen die Menschen, es herrschte Vertrauensseligkeit“ und „die Mitarbeiter wussten sehr viel über Dritte. Trotzdem ließen sie sich kaum als Quelle anzapfen“.
Ungeniert redet M. B. über Aktenvernichtung, für die es keine Pläne gegeben habe, keine Möglichkeit der Verbrennung und zu wenig Wagen“, Aktenberge schnell und unauffällig wegzubringen.“ Warum ist vieles so schiefgegangen? „Wir haben die Partei ständig auf Missstände, Auswüchse und konträre Positionen hingewiesen. Auf Kritikhaben wir verzichtet. Wir haben nichts gewagt. Wir hätten uns ja selbst infrage stellen müssen.“
M.B. fühlt sich verraten. „Mein Pflichtbewusstsein, meine Treue und meine Hingabe zur Partei sind mit Füßen getreten worden. Die, die Montag für Montag auf die Straße gehen, ist das unser Volk? Vor unserem Objekt brüllten sie? Stasi raus! Stasi in die Volkswirtschaft!‘ Als hätten wir die Pest am Leib.“
Des Majors Rede bedarf keines Kommentars. Doch Pfarrer Hans-Joachim Hanewinckels Nachwort ist nach zwölf Jahren und neuerlichen Verklärungen und Verleugnungen besonders wichtig: „Die Schatten der Stasi hatten sich auf uns gelegt und das Zusammenleben vergiftet bis in die kleinste Familienfeier. Und lange Schattenreichen noch bis weit in die Zukunft. Die Beschattung war für uns konturlos, nebelhaft, allgegenwärtig. Die Angst vor der Verharmlosung kann uns zur Wachsamkeit helfen. Was wir vergessen und verdrängen, müssen wir noch einmal erleben. Ohne aufdeckendes Erinnern bleibt der Weg in die Zukunft verschlossen.“
Reinhardt O. Hahn: „Ausgedient. Nach Notizen eines Stasi-Offiziers erzählt“, Projekte Verlag 188, Halle 2001, 130 Seiten, 12,70Euro.
Spätestens hier müsste die Sorgfaltspflicht auf die obige Umkehrung der Lebensläufe des Stasi-Majors und die es Schriftstellers, der ja schon seit 1978 veröffentlicht hat und 1986 einen bedeutenden Bestseller geschrieben hat, (345.000 verkaufte Exemplare "Das letzte erste Glas"), das in siebzehn Auflagen bis 2012 erschienen ist.
Das Personal der DDR-Staatssicherheit
Mensch ist unsere beste Waffe
Von Reinhard Wengierek
Veröffentlicht am 24.04.2004
Im Kino: Der Dokumentarfilm (88 Minuten „Aus Liebe zum Volk“ von Sivan und Maurion beschreibt das Wahnsystem Stasi
„Heute geht jeder, der gehen will. Unvorstellbar. Nichts wird mehr kontrolliert.“ Herr S. vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit wird es nie begreifen können, dass da neuerdings ein - in jeder Hinsicht - freies Kommen und Gehen ist. Ohne Genehmigung. Ohne staatliche Stempel.
Ging doch dem Ex-Major in seinen 20 MfS-Dienstjahren vor allem eins in Fleisch und Blut über: Der Glaube, dass „hinter allem und in jedem die Möglichkeit einer feindlichen Handlung gegen den Staat stecken könnte“. Entfällt da Kontrolle, so seine Folgerung, wuchert Destruktion. Der Kampfauftrag ist also klar: das scharfe Schwert Stasi gegen den allgegenwärtigen Staatsgegner. Die Stasi als der Liebe Gott des DDR-Volks, als sein Beichtvater, seine Zuchtrute. Und der Stasi-Offizier als ein Kreuzritter gegen jeden Ungläubigen.
Ohne diese Erhebung der totalen Überwachungsarbeit ins Höhere, ohne diese Verklärung der Überwacher zu Erwählten wäre das Menschenverachtende der Mielkerei unmöglich in seiner Perfektion. Dieser Wahn war das Opium gegen alle Skrupel. War Blankoscheck für Verbrechen; aber auch Zeichen für die Banalität dieses Bösen. Auch unser Major S. wird in dem Dokumentarfilm „Aus Liebe zum Volk“ nicht müde, daran zu erinnern, was seine aufopferungsvolle Tätigkeit so wichtig, groß und schön machte. Und sie, wie er meint, für immer gegen jeden Verdacht des Kriminellen schützt.
Eyal Sivan (der schon Adolf Eichmann in „Der Spezialist“ filmisch sezierte) und Audrey Maurion benutzten bislang unveröffentlichtes Bildmaterial; vornehmlich Selbstzeugnisse der Stasi: Als Lehrmaterial gedachte Dokumentationen von IM-Werbung („die Quelle Mensch ist unsere beste Waffe“) oder Verhörmethoden („die Seele jeder Akte ist die akkurate Dokumentation“). Oder die Aufzeichnungen alltäglicher Observation auf der Straße oder beispielsweise im Büro - Sex eines überwachten Angestellten mit der Sekretärin, ideal verwertbar für erpresserische Zwecke. Das mag unfreiwillig komisch wirken. Vieles wiederum, etwa Verhaftungsszenen oder Wohnungsdurchsuchungen, das Wühlen in Schriftsachen, Schränken und sogar Betten, lässt einen noch jetzt erstarren.
Dass der Film nicht versinkt in (längst erzählten) Gruselgeschichten und nicht in (längst erhobener) Anklagerei hat auch damit zu tun, dass die beiden Filmemacher, eine Französin und ein Israeli, von draußen kommen und mithin frei sind von Verfolgungseifer (den man Opfern durchaus zugesteht).
Dennoch gelang ihnen sehr viel mehr als die kühle Innenschau eines Unterdrückungsapparats. Das hat mit der Grundlage ihrer Arbeit zu tun: Nämlich den so offenherzigen wie sachlichen Notizen des Stasi-Majors S, die er nach seinem letzten Arbeitstag im Februar 1990 aufschrieb. Reinhard O. Hahn verdichtete sie zu einem Bericht, veröffentlicht unter dem Titel „Ausgedient“ im Mitteldeutschen Verlag Halle. Dieser als authentisch geltende, von Axel Prahl mit optimal dosierter Einfühlung eingelesene Text ist das individuelle Gerüst, das packende Einzelschicksal, um das sich das Allgemeine, das Prinzip Stasi rankt.
Dieser ungebrochen stolze, aber unsentimentale und unsichtbare Ex-Genosse S. beschreibt mit weg gesteckter Erschütterung und soldatischer Nüchternheit seinen Aufstieg und Fall von der Privilegiertheit in Aufsässigkeit: „Unvorstellbar, dass es keine Sicherheit mehr geben soll; jeder Staat braucht sie. Warum gibt man uns nicht die Chance einer Wende?“ Die Frage zielt ins Gegenwärtige. Wie das Zitat eines vernünftigen, aufgrund gespenstischer Erfahrung jedoch Ängste beschwörenden Satzes von Bundeskanzler Schröder: „Die Welt muss sicherer werden.“
Freilich, unser großer Zorn auf die Täter von gestern ist verraucht. „Aus Liebe zum Volk“ durchweht eine solche rauchfreie Atmosphäre. Sie erleichtert Aufklärung. Macht das Absurd-Monströse eines gigantischen Kontroll- und Angstmach-Apparats plausibel. Offenbart musterhaft, wie Manipulation, wie Überzeugungstäter funktionieren und wozu sie imstand sein können. So stößt dieser spannende, doch nie sensationsheischende Film ins Allgegenwärtige. Trifft aber auch glimmende Ängste vor möglichen Stasi-Kopisten von morgen. Vor einer wie auch immer gearteten Perversion unserer Sicherheitsapparate.
Sivan und Maurion stellen nunmehr stalinistischen Horror bloß. Und warnen zugleich. Obendrein aber erzählen sie von Allgemeinmenschlichem: einem existenziellen Scheitern und Abschiednehmen, dem plötzlich hereinbrechenden Verfall bislang ehrfürchtig geglaubter Werte. Von einem, wenn auch selbst verschuldeten, dennoch schwer zu ertragenden Zustand der Zukunftslosigkeit.
Der Schriftsteller Reinhardt O. Hahn hat eine beindruckende positiv unparteiische
sowie kritische Lebensleistung vorzuweisen.
Ein Autor, der immer Schwachstellen einer Gesellschaft aufgriff hat, um sie überparteilich, zugleich schonungslos seiner Wahrheit verpflichtend verändern zu helfen.
Natürlich geprägt durch seine vielfältigen Lebenssituationen, die er durchschritt und aus diesen persönlichen Erfahrungen in der Lage war, für andere Menschen ein Vorbild zu sein.
Eine Lebensleistung, die längst noch nicht abgeschlossen scheint.
Ohne Zweifel ist Hahns *Erleben* außergewöhnlich. Sein Mut und auch seine Entschlossenheit, haben oft von ihm ausgehende, besondere Merkmale auch in der Gesellschaft geschaffen.
Mit 15 Jahren versuchte er in den Westen zu seiner Mutter zu gelangen. Die Republikflucht scheiterte. Aus diesem Grund wurde er zwei Jahre in ein Kinderheim eingewiesen, damit war die Rückkehr zur Mutter fast 30 Jahre nicht möglich.
Hahns Mut äußerte sich oft so, dass er sich den Lebensbedingungen stellte und sie zu verändern versuchte. Er suchte Zugehörigkeit, familiären Rückhalt.
In Leuna fand er eine sinnvolle Bleibe durch Beitritt in die SED. Er glaubte an die Ideale und schaute hinter die Kulissen, analysierte nun auch die Widersprüche.
Die neue politische Familie brach 1975 dann durch seinen folgenden Parteiaustritt weg.
Ein enormer Druck traf ihn, eine Herabstufung von der Gehaltssttufe A8 auf die Lohnhruppe III, eine Versetzung in einen anderen Betrieb und heftige Drohungen belasteten ihn sehr.
Hahn, nun auch privat durch eine Scheidung mit seinem Kind an der Seite allein, führten zum Alkoholexzess.
In der Stadtmission am Weidenplan in Halle, bei der damaligen Diakonin Melitta Duscha, fand er Unterstützung, am 14.01.1982 fand er den Weg aus dem Teufelskreis heraus.
Und da begann er zu schreiben, suchte in der Literatur einen Weg, um die Probleme verarbeiten zu können.
1985 Das MFS beobachtete den Hauskreis Hahn. Im dritten OPK ( ein operativer Kontrollvorgang der Stasi) Titel: „Der Schreiber“, blieb er seiner Kritik und seinem Widerstand an das von der SED geführte System, treu.
Er löste nun die Konflikte, die im Widerspruch zu seinem Gerechtigkeitsgefühl standen energisch, sofort und vor allem literarisch.
Sein erstes Buch, „Das letzte erste Glas“,
es lag drei Jahre beim MfS im ZK der SED, in der Abteilung Kultur fest.
Reinhardt O. Hahn gelang ein Bestseller, der in 17 Auflagen 345.000 mal verkauft wurde.
So lernte ich ihn damals kennen und war begeistert, dass jemand so ein Tabuthema in der DDR mutig offen darlegte. Ich selbst, damals als Musikstudent im Psychiatrischen Bezirkskrankenhaus Dösen tätig, arbeitete mit Alkoholkranken musikalisch.
Kannte die gesamten Situationen der Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, die alkoholabhängig waren.
So zog mich Herr Hahn in seinen Bann und ich begleite ihn zu Buchlesungen.
Hahns Bestreben war, seine Offenheit und Ehrlichkeit, mit sich selbst, zu vermitteln.
„Alkohol und Selbstbetrug sind Brüder“, mit diesem Slogan trat er zu mehr als 2.000 Lesungen an. 86.000 Besucher kamen zu seinen Lesungen, in den Leihbibliotheken wurde jedes Buch mehr als 120-mal ausgeliehen.
Selbst rettete Hahn als „Sponsor“ 13 Alkoholkranken wahrscheinlich das Leben, er machte mit Ihnen sogenannte „Verträge“ über Nüchternheit durch Sinngebung.
Der Autor Hahn, inzwischen am Literaturinstitut studierend, veröffentlichte zwei weitere Bestseller:
„Noah II“, mit Loetzke ein Antikriegsroman über Gentechnik
Und „Ausgedient“, ein Stasi Major erzählt.
Dieser wurde verfilmt und hatte seine Weltpremiere als Kinodokumentarfilm, 2004, bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin mit dem Titel „Aus Liebe zum Volk“.
Auch er war in Halle und in Leipzig auf der Straße, war Mitglied im Neuen Forum und saß verantwortlich für Jugendliche im Strafvollzug am Runden Tisch, die Suchtprobleme hatten.
Inzwischen gibt es von ihm als Schriftsteller 41 eigene Titel in der DB .
Möglich war das auch nach 1989. Kinderbücher für Schulen, da es keine neuen Bücher für den Unterrichtsstoff gab.
Aufklärend, neugierig und immer bewegt von den politischen Zuständen, egal wer dies formulierte, oder wer sich gegen den persönlichen freien Willen der Menschen durchsetzte, egal mit welchen Mitteln. Er spürte dies auf und war deshalb unbequem.
Es ging ihm immer um Klarheit im Denken.
In seiner GmbH war er der erste Unternehmer in Deutschland, der mit dem Digitaldruck experimentierte und führte den Beruf des Berufsbinders in Sachsen-Anhalt wieder ein und prroduzierte damit hochwertige Verkaufsauflagen.
Er hat vier Kinder, neun Enkel, ist verheiratet. 28 Lehrlinge hat er ausgebildet, sechs Familien fanden auch durch die Ausbildung ein neues Zuhause in Europa bzw. in Sachsen Anhalt.
Seiner Frau Martina, schenkte er 2006 eine seiner Nieren.
Sie und er, Reinhardt O. Cornelius-Hahn, wohnen in Halle, Hahn ist in der (Christa-Wolf-Gesellschaft), im Freundeskreis der Marienbibliothek und im Organspende-Verein in Mitteldeutschland Mitglied.
Sein Grundsatz:
Niemand sagt mir, wie ich leben soll!
Hahn ist ehrlich und nicht erpressbar, ebenso wie mutig und aufrichtig - das macht ihn oft unbequem und außergewöhnlich.
Hier trifft das Lutherzitat zu.
„Hier steh ich nun und kann nicht anders,…
Gott helfe mir Amen
Es kommt selten vor, dass dem Autor mehrere Lebensläufe für seine Literatur "schenkt" werden. Der Ärger mit der Zuordnung eines Lebenslaufes beginnt schon vor der Geburt.
Meine Mutter, eine schöne, kluge und starke Frau (solche Frauen gibt es) hatte schon 1935 bei ihrem Vater die Beziehung zu einem Kaufmann durchgesetzt, der einer jüdischen Familie aus Steglitz (Berliner Südwesten) angehörte. Meine drei ältesten Geschwister, sind dieser Beziehung "entsprungen", Was es doch alles gab?
Mein Leben wurde schon vor meiner Geburt interessant.
Meine Mutter Edith, in Berlin aufgewachsen, verliebte sich 1935 in Herrn Schultek. 75 Jahre später bezeichnete ich meine Geschwister als Vierteljuden, was sie mir am Grab unserer gemeinsamen Mutter im Jahre 2010 übelnahmen.
Übrigens ist meine Mutter ein Jahr vor der Kreation des Versailler Vertrages geboren und ein Jahr nach der Zahlung desselben verstorben.
Millionen Deutsche sind während ihres gesamten Lebens hochverschuldet gewesen.
Der Halbjude Herr Schultek, so im Scheidungsurteil 1958 meiner Eltern, über den bis 2010 nie gesprochen wurde, verschwand schon 1942 in der Organisation Todt, eine nationalsozialistische Bautruppe des Führers, die vorrangig mit dem Bau von Autobahnen und dem Atlantikwall beschäftigt war.
Mein Vater Rudolf, Frühpensionär des 2. Weltkrieges und nach 1945 im polnischen Bergbau beschäftigt, wurde, als unbrauchbar wegen der 11 Verwundungen an der Ostfront von den Polen nach Hause entlassen, und es trieb ihn als Heimkehrer schon 1946 in seinen Heimatort Gottberg zurück. Sein BMW-Motorrad mit Beiwagen und den Reitersturm gab es nicht mehr, aber es gab meine Mutter, die sich in diesem Ort durchvesperte und sofort erkannte, an diesem Mann fehlte viel, aber einige entscheidende Dinge waren an ihm noch dran, wobei ihr besonders wichtig schien, er und sein Bruder waren Eigentümer eines Bauernhofes, ein merkantiles Gewerbe mit markanten Produkten.
Sie nahm sich sich Rudolf, meinen Vater und festigte das Verhältnis mit ihm durch eine Schwangerschaft, aus der Reinhardt, der Schreiber dieser Zeilen entsprang.
Schon vor meiner Geburt erlebte ich im Leib meiner Mutter den härtesten Winter in der deutschen Geschichte. Eine knappe Million Deutsche kamen im Winterhalbjahr 1946-47 um. Ich überstand diese Zeit gut. Problematischer war der Sommer 1947, er war lange Zeit der heißeste seit Menschengedenken. Die Elbe führte bei Dresden kein Wasser.
Als sie, meine Mutter, sich meinen Vater 1946 griff, füllte sich die Lebensgeschichte meiner Mutter prall mit neuen Ereignissen und Tragödien.
Schultek gab es nicht mehr, mein Vater war gekommen und er setzte mit ihr drei weitere Kinder in die Welt. Meinen jüngeren Bruder und meine noch jüngere Schwester.
Die Irrungen und Wirrungen meiner Biografie begann erst so richtig am 16. Juni 1953. Vater meldete als Hausvorstand unsere Familie in ein Bundesaufnahmenotlager in Westberlin an.
Bis zum 10. 10. 1959 war ich Bundesrepublikaner, ein kleiner Republikflüchtling aus der DDR, der mit dem Vater wieder in den Osten zurückkehrte, was sein Verderben wurde. Nach einem Aufenthalt im Stasiknast in Oranienburg, starb er im Juni 1960.
Ich erlebte derweil den "Frühling mit Gewalt" auf dem Bauernhof meines Onkels, der Staat war inzwischen mein Vormund.
Planmäßig sollte aus mir ein politisches Waisenkind mit Perspektive werden, was zuerst nicht gelang, am 28. 08. 1962 wollte ich über die Mauer in der Invalidenstraße wieder zurück zu meiner Mutter in den Westen. Meinen Fluchtkumpel habe ich danach 30 Jahre nicht mehr gesehen, ebenso wie ich ja meine Mutter und meine ältesten Geschwister nicht aufsuchen konnte.
So wurde die Mauer, eben die Teilung Deutschlands, mein Lebensthema. Der Sozialismus versuchte es mit mir. Ein Kind und Jugendlicher mit einer merkwürdigen Vergangenheit, die ich immer wieder erklären musste. Nach der POS, ich war ein mittelguter Schüler mit speziellem Charakter (Schulstreik, Heimkind, Westverwandtschaft 1. Grades). Nach der Lehre in Brandenburg, Hochspannungsmonteur Energie mit Abschluss als Volonteur, was das auch immer gewesen sein mag, wurde ich Baumaschinist, ein erfolgreicher Baggerfahrer und Wasserbauer.
Eigentlich hätte mein Leben so bleiben müssen, mit Schinken, Marmelade und Bier, doch das Leunawerk rief. Ein spannendes Leben durch die Republikwerbung mit sieben Mark Auslöse (jeden Tag mit dem Aufstehen) und das Angebot, an einer Abendschule den Facharbeiter für Chemie zu machen. Hier wurde es schon problematischer, meinen Lebensweg zu erklären.
Der Sozialismus rief, er brauchte mich und nach zwei Jahren Kandidatur wurde ich 1968 Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Familienvater, Halle Neustädter Bürger mit junger Frau und wieder schien es so, mit dem Reinhardt Hahn, da würde man viel ändern können. Er war ein junger, glühender Sozialist, selbstbewusst, stellvertender Schichtleiter (Brigadeur) und erfolgreich. Die "kluge" Partei" der Arbeiterklasse erkannte bald, mit Reinhardt Hahn, da hat man einenklugen Kader. Nach zwei politischen Besohlungen in der Kreis- und Bezirksparteischule erkannten führende Genossen, der Hahn, der hat das Zeug fürs ganz Große. Mein Parteiauftrag 1972 war, eine besondere Fahne nach Leuna zu holen, sie mit dem Kollektiv zu erkämpfen und von Berlin in die Leunawerke zu tragen.
Vor den X. Weltfestspielen war es so weit. Ich war einer von 55 ausgezeichneten jungendlichen Blauhemden der DDR. Ein junger FDJ Sekretär, Nomenklaturkader der Bezirksleitung und ein Delegierter für die Parteihochschule "Karl Marx" in Potsdam. Die Verwandschaft zu meiner Mutter war den Genossen im Wege. Ich kündigte die Verwandtschaft schriftlich auf, und wurde als Sekretär einer Grundorganisation in Leuna gewählt und sollte darauf warten, ein Chemiestudium in Magdeburg zu absolvieren.
Zwei Ereignisse änderten aber diesen Weg in die Zukunft. Der Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973, der meine politische Einstellung änderte und, man mag es kaum glauben, meine Frau verliebte sich in meinen jüngeren Bruder, der aus dem Strafvollzug entlassen wurde (Republikfluchtversuch und Schusswechsel). Er heiratete meine Frau ein Jahr später. Das war ja noch zu verzeihen, die Partei sagte, kläre das, aber den Krieg, den ich aus Gerechtigkeitsgefühl verteidigte, ließ meinen steilen Aufstieg so nach und nach verblassen.
Man muss wissen, eine Partei, deren Sinn von der Ausübung einer Diktatur getragen wird, ist nachtragend und kann auch nicht verzeihen. Eine Partei hat immer Recht.
Allein in einer schönen Wohnung in Halle, eine Tochter nach der Scheidung zugesprochen, versuchte ich mein Leben als beschädigter Funktionär aus zu balancieren. Das ging nur zwei Jahre gut; nach einer Wahlversammlung, ein Genosse Hermann Axen war anwesend, wütete ich gegen die Partei, trat öffentlich aus, nachdem ich versucht hatte, dass man nicht "Politiker", Schwerstarbeiter, Prost-Genosse und noch Vater eines Kindes sein kann, das eingeschult werden sollte.
1976 wurde ich Trinker, nochmals Vater und Schichtleiter in Buna. Im Explosionsladen Äthylenoxid prahlte ich damit herum, dass ich eine Abfackelungsanlage ersteigen konnte, um in knapp 100 Meter Höhe in der Lage war, die Zündköpfe zu putzen.
Ich war immer noch ein Held, aber die Kräfte der Partei arbeiteten daran, mir jeglichen Nimbus zu nehmen. 1978, nach einer schwierigen Landung im zweiten Ehehafen, einem weiteren Kind und eine Waffe an der Schläfe, verfiel ich der Trinkerei. Faselte von literarischen Erfolgen, wurde tatsächlich 1978 in Leipzig am Literaturinstitut immatrikuliert und studierte ich mich so durch.
Mein Talent wurde zum Problem, die Sucht wuchs aus, bis ich 1982 vor der Flasche kapitulierte und das kam so. Wie mein dritter Lebenslauf begann:
Am 14.01.1982 war ich ganz unten angekommen. Es war mein tiefster Fall. Alles, was ich vorher erreicht hatte (Biografien) war zerstört. Ich sortierte mein Leben und ich wusste ab diesem Tag, wie ich leben sollte. Die Sprache der Sucht war allmächtig und massiv. Sicher, dieses Schicksal erleiden oder erlitten viele vor mir und nach mir. Groß wurde meine Dankbarkeit aber durch zwei Vorgänge, eine Diakonin bürgte für mich und ich selbst war es leid, mich immer wieder mit Ausreden und Schuldzuweisungen zu belügen. 1982. Es war mein letztes, erstes Glas.
Ich schrieb wie besessen eine Roman über die alkoholische Krankheit. Am 24.12.1983 war die erste Fassung fertig. Es lag drei Jahre beim Verlag auf Eis, wie ich es später aus den Akten der Staatssicherheit herauslesen konnte. Es sollten erst zwei ähnliche Titel fertig werden, damit die Genossen in Berlin ihre Zustimmung geben könnten. Ein Problem, das keiner sehen wollte.
Die "Saufpyramide" in der DDR stand auf einem breiten Boden. Jeder achte Bürger hatte Probleme mit dem Alkohol. Eine Volksdroge, die aus Gründen der Verdrängung, der Betäubung, der sozialen Ängste und aus einer tiefen Entsagung wegen der unbefriedigenden und sinnentleerten Lebenslage "genossen" wurde.
Die Sehnsucht nach Nüchternheit im Verstand war für mich bedrückend und beispiellos groß, für andere bestimmt ebenso. Als das Buch 1986 im Herbst erschien und in den Regalen der großen Buchmessen stand, war ich dankbar und auch "glühend" mit Freude erfüllt. Ich hatte es überlebt, ich habe es ehrlich erzählt.
Das letzte erste Glas wurde insgesamt 17 Mal verlegt. 245.000 Exemplare wurden direkt verkauft. 1.200 Lesungen nur aus diesem Buch! In den 11.000 Bibliotheken der DDR, die es im "Leseland" überall gab, in fast jedem Dorf, in jedem Betrieb und in allen größeren Institutionen, wurde jedes Buch 150 bis 200 Mal ausgeliehen.
Außerdem wurde der Titel in zehntausender Auflagen in Leinen gebunden an die Bibliotheken geliefert, ebenso in die staatlichen Krankenhäuser, Sicherheitseinrichtungen und Haftanstalten. Vor allem aber an die Leser, die sich in den Buchhandlungen nach der Ware "bückten" mussten.
86.000 Zuhörer und Leser hörten mir bei mehr als 2.000 Lesungen zu, ich habe Buch darüber geführt wie ein Preuße.
Und, da gab es noch die 300 Briefe, irgendwann hunderte Zeitungsartikel, die drei dicke Aktenordner füllten und immer wieder kam die Aufforderung zum Gespräch.
Das Buch war für viele Menschen eine große Lebenshilfe, die größte für mich selbst. Blumen, Dankesworte, Honorare und Anerkennungen hat es mir eingebracht. Noch heute danke ich der Diakonin, meinen Lesern und mir...
Ich erkannte einige sehr wichtige Dinge, die mein Leben auch verändern sollten:
Die Vernetzung im Denkens ändert sich, so sagt man. Was ist damit gemeint? Ich habe dafür ein Bild entwickelt, das ich mit einfachen Worten darstellen kann. Ich fand zurück zu mir, nachdem man mir den Parteiausschluss mit der vorgehaltenen, entsicherten Pistole in Buna den Ausschluss abverlangte. Weil ein Genosse niemals austreten durfte, sondern nur ausgeschlossen werden konnte, stand ich heimat-, mittel- und orientierungslos vor der Zukunft.
Der Griff zur Feder, Kumpel, war es nicht, aber so ähnlich wurde ich auch zur Literatur geführt. Es war meine Wahl, entweder sich zu Tode zu trinken, weil ich vom Sozialismus übersättigt war, oder etwas Verrücktes zu machen. Ich besorgte ich mir eine Orga Privat, eine Schreibmaschine. Nach dem ersten Erfolg im Wettbewerb, ich erhielt mehr Mark der DDR pro Wort als Hemingway an Dollar für eine Geschichte mit 250 Worten, besuchte ich den Literaturzirkel eines Umwelt Heros in Buna. Das passte zwar nicht alles zusammen, doch ich obsiegte in den Dialogen um die Zukunft und wurde, auch zwecks besserer Beobachtung durch das MfS im Literaturinstitut Leipzig immatrikuliert.
Der Hauskreis Hahn füllte bis 1985 schon zwei OPKs mit fast tausend Seiten. Mit meinem wichtigsten Buch öffneten sich mir die Türen für das „Künstlerische Volksschaffen“, ich wurde freiberuflich.
Die Abstinenz und die Literatur verschafften mir ein wirklich neues Leben. Meine Frau, ein viertes Kind, drei Bestseller in der DDR, die alle Auswirkungen auf die Zeit nach der Wende hatten.
Ich ging 1989 auf die Straße, demonstrierte wütend und zornig mit Freunden. Ich sah meine Mutter wieder und reiste das Land rauf und runter und da ich ein Preuße im Herzen bin, zählte ich die Besucher in den Lesungen, die Buchausleihen in den Bibliotheken und die verkauften Bücher. 1,2 Millionen, eine stolze Zahl, was aber nicht gegen die Influencer in der Welt der neuen Medien ist. Allerdings, ich verkaufe die Abstinenz und keine Parfüms oder Gesänge.
Natürlich hätte ich dabeibleiben und meinen neuen Beruf pflegen müssen. Aber, die Neugier hatte mich schon früh auf die Straße getrieben, ich betätigte mich unternehmerisch. Vielleicht war das auch richtig so, weil die Bürger des soz. Vaterlandes ihr Land in der Gänze, sowohl ökonomisch, sozial und auch historisch an gewieften Westbürger so nach abgegeben hatten, seien es die Posten und das Eigentum, beides wurde westlich.
Mein viertes Leben
Meine Druckerei und der Verlag, beides betrieb ich 24 Jahre und ich stellte ab dem Jahr 2000 meinen Betrieb in Westeuropa als Stätte der Erfahrung für Innovatives und Kreatives zur Verfügung. Für die ganze Welt war der digitale Gegenstand der Produktion neu, dem Analogen wurde abgeschworen. Mein Unternehmen ging voran, hatte vor allem Geist, doch es besaß niemand in meiner ostdeutschen Nähe Kapital, besonders die Banken nicht. Der Wirtschaftstourismus in der Firma Cornelius GmbH blühte. Große Firmen reisten in Bussen an und staunten über das Knowhow und nahmen es dankbar mit.
Die erste Handbuchbinderei, die auf eine digitale Produktion eingestellt war, die Verarbeitung von allen denkbaren Materialien aus der Druckindustrie und was noch wichtiger war, die vertikale und horizontale Erarbeitung, der Vertrieb und der Verkauf, alles lag in meiner Hand, bei dem Geschäftsführer.
Eine gelistete, zweckdienlich und auf den Kunden zugearbeitete Produktion zerstörte aber die schöne Welt des Geldverdienens der Großverlage. Die Rettung kam aber auch für diese Gruppierung des Kapitals, die Produktion von heftig beworbenen Titeln mit großen Namen und minderwertigen Inhalten. Die Kaufkraft wurde "aufgekauft" mit Titeln von Politikern, Fußballern, Schriftstellern und Entertainern. Keine Idee ist so gut, als dass es keine bessere gebe, geht es um den Profit. Und, falls man eines Tages Wissenschaft, Humanismus und Qualität ganz wegdenkt, wirft die Blödheit denselben Profit ab, als ein interessierter Verstand. Das ist eine Frage der Verteilung, die man bewirbt.
2014 bis 2015 schloss ich den Namen mit dem schönen Titel, verliehen von einem Gericht, als Generalbevollmächtigter. Das war nach einem Vierteljahrhundert Schwerstarbeit, neu gewonnene Freiheit.
Mein gesamtes Leben war eine Zeit der Suche nach Freiheit. Das Ergebnis ist auch vorhanden und glasklar. Freiheit erreicht man durch Kapitulation. Im Loslassen des Habhaften steckt der größte Gewinn für alles, für die Gesundheit, die Freiheit und auch die Zukunft. Über diese Erkenntnisse gibt es ein Buch von mir: Das Paradies im Irrenhaus. Der vierte Band meiner Tetralogie über Deutschlands Teilung und über Deutschlands Einheit.
Meine fünfte Biografie holt mich ein
2015 stand ich mit dem Titel "Generalbevollmächtiger" vor dem Nichts. Meine Firma gab es nicht mehr, meine Kinder waren erwachsen. Das Geld hatte die Schwindsucht bekommen, denn die Rente war schmal und meine Frau hielt den gesamten "Laden" zusammen.
Die Höhepunkte waren die in drei Monatsabständen durchgeführten Untersuchungen in der Universitätsklinik in Halle. Wir haben uns immer alles geteilt, sie die Ordnung und Organisation in unserer Familie, ich gab den inneren Halt gegen den Ansturm der Institutionen. Unsere Nierenwerte waren seit 2006 nach meiner Lebendspende gut, Martina arbeitete der Rente im Landesamt entgegen und wir entschlossen uns, das 1996 gebaute Haus 2019, wenige Monate vor Corona, zu verkaufen. Mein 2015 neu gegründeter Verlag funktionierte weniger was das Geldverdienen betraf, es war aber der Kontakt, den wir überall halten konnten und die Literatur, die Haupttätigkeit der ganzen Familie, beides hatte wie immer einen festen Stellenwert.
Inzwischen sind bis heute 70 Titel entstanden, mehr zur Freude der Autoren und eine würdevolle Reihe von Büchern über die Geschichte der Europäischen Philosophie schmückte meine Herausgabe als Verleger wesentlich.
Unglücklich war, der Autor Johannes Driendl verstarb 2023, einige Wochen nach der Auslieferung seines letzten Titels über die Philosophiegeschichte.
Wieder könnte ich sagen, das gesamte Leben ist doch ganz gut gewesen, Mir muss keiner dankbar sein für meine Hilfe oder sogar der Rettung seines Lebens, denn ich war 13 Mal der Sponsor von todkranken Menschen, um die ich mich mitunter sogar einige Jahre gekümmert habe.
Etwas, was mich immer störte, war der Rückgang der Verkaufszahlen meines kleinen Verlages :
Projekte Verlag Hahn. Inzwischen bin ich wahrscheinlich dahinter gekommen. Im Archiv der Havemann-Gesellschaft und in Literatur-Listen stehen viele Kontakte, mit Namen bezeichnet und mit der Berufsausübung betitelt. Dort heiße ich: Hahn, Reinhard O. und es entsteht der Eindruck, ich wäre als Offizier beim MfS tätig gewesen. Das Buch "Ausgedient - Ein Stasimajor erzählt" lässt vermuten, ich sei der jenige welcher. Es ist aber nur Literatur gewesen und mein besonderes Können lieegt darin, dass ich aus dem Ich-Erzählwinkel die besten geschichten erzählen kann. Mein Sohn sagte ironisch, du hast ja wenig Geheimnisse, aber diesen Beruf eines höheren Offizier und das Einkommen dazu, den hast du sogar vor dir selbst versteckt.
Ja, jetzt weiß ich, was für andere die Nazikeule ist, für mich könnte es die Stasikeule sein. Es ist interessant, mein fünftes Leben schließt in einem Kreis, den ich nie für möglich denken konnte. Bis auf drei OPKs und drei Bücher und einen Film über das MfS, hatte ich mit diesen Leuten nie Konkretes und Tatsächliches zu tun gehabt.
Ich denke oft darüber nach, was wohl Robert Havemann oder Wolf Biermann gedacht haben könnten, hätte man sie als Stasimajor oder Hauptmann in die Akten ihrer Gegner eingestellt.
Im Grunde ist das gesamte Leben kein Spaß, denkt man an den Neid, die Unfreiheit und die Gier anderer Menschen. Aber trotzdem lohnt es sich, Gutes zu tun und Menschen zuhelfen, egal wie dreckig oder beschränkt sie sind.
Halle, den 02.11.2024
Onkel Otto aus Gottberg
Während der Schulferien war ich als Jugendlicher mehrmals in einem Sägewerk tätig. Ich beobachtete die mächtigen Gattersägen, die einen langen, schönen Stamm in Bretter sägten, man kann auch sagen, schnitten. Diese langen Bretter konnten nach dem Schälen mit dem Schwartenmesser nicht mehr erzählen, von welchem Baum sie stammten. Ähnlich einem Wortstamm, von dem man nur noch Wort oder Silbe kennt. Man musste schon ein „Kenner“ sein, um das Geheimnis des Holzes oder der Sprache enträtseln zu können.
Mein Onkel, ein Schreiner, zeigte mir eine Holzscheibe und sagte, so könne ich den Baum erkennen. Wie alt er sei, an den Jahresringen, welcher Baumart er angehöre und man könne sogar die Himmelsrichtung vom Stirnholz ablesen.
Weil ich das verstanden hatte, konnte ich mir den Baum vorstellen, seine Höhe, sein Wuchs, sogar seine Blätter und seine Art. Das Bild des Stirnholzes, so nennt man diese Holzscheibe, bot eine große Kraft für die Richtigkeit in der Beschreibung an. Das Stirnholz konnte besser und mehr erzählen, als ein langes Brett. Es war nur das Material, das einander ähnelte.
Welches Material wird heute mir angeboten, um mein Denken so darstellen können, dass es ein anderer versteht, sich es vorstellen kann, es sogar mit seinen Gedanken anfassen oder begreifen könnte?
Da gibt es verschiedene wörtliche Angebote: Ich kann angesprochen werden, man kann mich „antwittern“, anmailen, anschreiben, ansimsen oder man kann mir etwas vorlesen und noch besser, ich lese selbst. Ich denke, diese Aufzählung könnte ich beliebig fortsetzen. Wichtig ist, verstehe ich den anderen oder kann er das begreifen, was ich ihm mitteilen will. Hier könnte ich auch meine Aufzählung so fortsetzen. Den Bericht, die Dokumentation, das Erzählte und sogar das Gehörte und Gesehene. Man denke hier an die Kraft der Erzählung, an die Macht eines Romanes, an ein Gedicht, vielleicht sogar Töne einer Komposition oder sogar an ein geschautes Bild.
Sie bemerken, die Darstellung dessen, was ich Ihnen sagen möchte, verdichtet sich. Wir finden in allem eine Kernaussage, das ist nicht nur das Wort allein, sondern es ist die Kraft und die Macht der POESIE. Ich kann das Wetter bei Alexa und auch im Radio erfragen, oder bei der KI. Ich kann es aber auch selbst erzählen:
Ein kleines Gedicht über die Poesie
Es ist Herbst, klirrend fällt ein welkes Blatt vom Baum.
Das kann ein Holzkopf oder eine Künstliche Intelligenz nicht denken.
Es ist die Kraft der Poesie. Sie bündelt das Verstehen der Worte. Die Poesie ist auch in der Lage, das Besondere mit dem Allgemeinen zu bündeln und, sie hat immer recht. Das ist übrigens ein Satz von Gerhard Wolf „Die Poesie hat immer recht“. Er schreibt "recht" sogar groß. Nur das Poetische vermag zu erklären, wie etwas gewesen sein könnte. Nur hier finden wir die Wahrhaftigkeit, die uns alle darin eint, ja, hier steckt alles drin. So ist es. Was wüssten wir über den 30-jährigen Krieg ohne die Dichtung des Grimmelshausen, welche Worte hätten wir für die Liebe ohne die Poesie und ohne Gedichte Heinrich Heines oder Johann Wolfgang Goethes. Was würden wir über unsere Seelen wissen ohne den kleinen Prinzen und seinen Erfinder Antoine de Saint-Exupéry? Was würden wir überhaupt noch vom Leben verstehen oder darüber wissen, ohne die kraftvollen Worte der Dichtung!
Ja, es blieben nur lange Bretter und falls es hochkommt, würden wir nur über die Schwarten was wissen oder mit einem anderen Wort gesagt, die Borke bliebe zwischen dem Gelesenen und dem Verstand. Wir würden immer rätseln müssen, wie fühlt man sich zwischen Baum und Borke? Ich möchte hier nicht zu sehr auf die neue Vernetzung des Denkens eingehen, die sich geändert haben mag.
Da gibt es inzwischen Netze, die kommen ohne Maschen aus, es fällt alles durch, andere Netze sind so dicht, dass man meint, das Denken könne man auch in einen Sack werfen und ihn ein Rathaus tragen, damit es nach der Öffnung vielleicht den Raum darin erhellt.
Was machen wir nur ohne Fantasie? Wie erklären wir uns die Welt - ohne Mitgefühl, ohne Barmherzigkeit, ohne Seele, alles, was wir mit Worten anfassen können oder zu begreifen vermögen...
Eine Welt ohne Dichtung ist eine Welt ohne Eleganz und ohne Träume und Hoffnungen, auch ohne Wahrheit und Zukunft. Wie soll also ein Mensch ohne Würde und Selbstgefühl leben?
Das Denken oder auch die Vorstellungskraft werden heute übertroffen von jämmerlichen Gedankenfetzen. Zusammenhanglose, schnelle Bilder überlagern die Wahrhaftigkeit. Sogar die Wirklichkeit, das ästhetisches Material für die Sinne - ich rede hier von den Bäumen, die noch nicht bearbeitet worden sind - werden nicht mehr als Wunder, sondern als politisches Argument gesehen. Auch dafür gibt es ein Sprichwort für den Einfältigen, er sieht den Wald vor Bäumen nicht. Anders die Poesie, sie ist wahr, klar und auch immer wirklich. Sie ist das Stirnholz des Denkens und sie entsteht in der Heimat.
Ein Mensch ohne Heimat ist ein Krüppel.
07.10.2013
Der Sommer 1947. Mein erstes, heißes Jahr
Am 16.06.1953 kamen wir in Westberlin an. Ein Tag vor dem 17. Juni. Das hatte seinen guten Grund. Erst 2010 erfuhr ich mehr von meiner ältesten Schwester.
Neues Forum 1990. Ich saß am Runden Tisch, für die LDPD. Damals gab ich Hilfe und Rat für Haftentlassene, über Sucht und Drogen und die neue Zeit, die kommen musste!
1961 im Frühjahr habe ich die Zeichnung aus dem Gedächtnis "gemalt". Wir waren mit der
Schulklasse in Ost-Berlin.
Staatsoper mit 14 Jahren!
Einige Freunde im Hauskreis Hahn. Wir haben uns von 1982 bis 1985 monatlich getroffen. Wir waren, die Spitzel mitgezählt, etwa 15 bis 20 Personen, die sich mit Politik, Sucht und vor allem Literatur beschäftigt haben.
Der Rostocker Buchbasar. In vier Stunden haben wir, meine wunderbare Frau Martina und ich, 800 Exemplare meines ersten Buches signiert und verkauft. Das war grandios. Hier begann mein drittes, schönstes Leben. Wir sind über vierzig Jahre ein Paar.
1962 versuchte ich nach West-Berlin abzuhauen. In der Invalidenstraße hat man uns geschnappt. Prügel und Heim, das waren die Folgen. Eine späte Wiedergutmachung, die Opferrente.
Hier stehe ich als Verfasser eines Buches für meine Autorin Rita Mittendorf. Daneben der Chef der MZ
Herr Sivan mit seiner Dramaturgin in Berlin, zur Berlinale auf dem roten Teppich.
Der Kinodokumentarfilm "Aus Liebe zum Volk" (88 min) wurde in 72 Ländern verliehen und gespielt. Mein Buch über das MfS war die Grundlage und hat die Franzosen angeregt, daraus einen Film zu machen. Das Buch selbst ist in vier Sprachen übersetzt worden. Privat in die niederländische und in die italienische Sprache. In Italien in einer Zeitung vorgestellt und abgedruckt. Aber, die Auflagen in Frankreich und Deutschland waren erfolgreich. Der Stasi-Major, der mein Informant war, verklagte mich später wegen Urheberrechtsansprüche. Ihm wurden 37,5 Prozent vom Nettoerlös zugesprochen.
In der DDR wurde 1973 das Thälmann-Ehrenbanner in einem Wettbewerb zu den X. umkämpft. 25.000 Organisationen, Gruppen und Kreisleitungen der FDJ bewarben sich um die 50 ausgeschriebenen Banner. In Leuna kam die SED auf mich. Ich brachte es nach Leuna. Interessant daran war, die Ausgezeichneten waren Gäste des Politbüros des ZK in Berlin. Es wurde gefeiert. Irgendwann musste ich ins WC, zwei Stasioffiziere begleiteten mich, wegen meiner "Sicherheit". Da hörte ich hinter einer Tür sitzend, dass der Walter Ulbricht an der "Eisernen Lunge" angeschlossen war. Vier Wochen vor den X. Weltfestspielen. Offiziell starb W. Ulbricht erst Beginn August und seine letzten Worte waren angeblich, die Weltfestspiele sollten trotz seines Todes weitergehen. Toiletten sind ehrliche Orte. Es fällt jede Scheu weg, weil sich alles auf die eigene Intimität der Verrichtung konzentriert - wahrscheinlich.
Von 1968 bis 1976 war ich ein sozialistischer Schurke. Es waren die roten Brüste des Sozialismus, die mir wahrscheinlich fehlten. Das Thälmannbanner für Leuna, vorn der damals glühende Kommunist Reinhardt. Man sagte mir: "Du schaffst das!". Einen ähnlichen Satz sollte ich noch öfters hören. Da war ich aber nicht mehr dabei.
Leuna war die Schule meines Lebens.
Neuruppin, ist immer meine stille Heimat geblieben.
2024, ich bin immer noch in der IHK. Ich war und bin schon über 40 Jahre selbständig tätig. Das macht mich froh und zufrieden. Es ist die Lust an der Arbeit, an der Gestaltung, am Gelingen.
"Sie müssen mir das Buch nicht schenken. Sie müssen es verkaufen", sagte er zu mir. Damals, die Straße der Romanik wurde in Magdeburg aus der Taufe gehoben. Darüber habe ich ein Kinderbuch geschrieben. "Der Ritterschlag"!
Mit Florian Oertel. Er war ein toller Mensch.
Salomon, der Bürgermeister Spandaus. Mein Autor.
Ich habe von ihm nicht nur ein Stück Haut auf einem Plakat gesehen. Wir haben gemeinsam eine Buchlesung realisiert. Er war schnell und schlau.
Doch davon soll hier nicht weiter die Rede sein, aber später kommentierte ich das Ereignis mehr im Zusammenhang, damit es in einer Zeitung die Leute aufgebracht hatte: Der Autor sagt über sich, er habe ein Goldenes Zeitalter durchlebt, das ohne Krieg begann und noch vor den ökologischen Katastrophen des 21. Jahrhunderts enden würde.
Reinhardt, so wurde mein Held getauft, ihm wurden noch ein Bruder und eine Schwester beigestellt, wurde schon in der frühen Kindheit ein Reisekader in eigener Sache. Schon 1985 stellte das MfS fest, er sei 35-mal umgezogen, an einige Wohnorte konnte sich der spätere Observant selbst nicht mehr erinnern. Von Gottberg, diesen mythischen Ort, zog die Familie nach Grünberg bei Nauen um. Hier passierte das einschneideste Erlebnis für die Gesamtfamilie. Am 15 Juni 1953 wehrte sich die Mutter, es gibt zwei Versionen, gegen die versuchte Vergewaltigung eines Sowjetsoldaten oder eines Kripobeamten. Die älteste Schwester sagte später, sie habe ihm den Scheitel mit einem Spaten nachgezogen. Er soll im Garten liegengeblieben sein und ausgerechnet, der Reinhardt war dabei und musste sich das alles ansehen.
Sein Vater, der Rudolf kannte sich mit Verwundungen aus. Er ging ins Nachbardorf, dort wohnte ein Kriegskamerad von ihm und noch in derselben Nacht lud der Kamerad die gesamte Familie Hahn, Dumke, Schultek auf die Pritsche des Milchautos. Der Transport war kurz, bis Velten oder Hennigsdorf und mit der ersten S-Bahn ging die Reise weiter bis Berlin-Gesundbrunnen. Mutter Edith kannte sich aus, sie fiel auf die Knie und weinte vor Glück.
Danach stempelte der Leiter des Bundesnotaufnahmeverfahrens die Akte: 213 986 zweifach ab und verwies die Familie Rudolf Hahn nach Nordrhein-Westfalen mit Zwischenaufenthalt in Bremen, in einer Kaserne. Zwei Grunderfahrungen machte hier das Kind Reinhardt, eine Apfelsine isst man nicht mit Schale und bei den Bremer Stadtmusikanten steht der Hahn ganz oben.
1954 nach einer Odyssee von Berlin, über Hannover und Bremen kamen wir endlich in Krefeld an und nach der fünften Flüchtlingsunterkunft erhielten wir eine Wohnung. Meine Mutter packte den Fußball aus, der Ilona hieß und unsere jüngste Schwester wurde, die Familie saß ansonsten in einer Kneipe und schaute sich das Wunder von Bern an. Wir waren angekommen!
Jeder erhielt von unserer Mutter die Aufgaben für die Lebensbewältigung. Gerd, der älteste Bruder wurde erst Bäcker und später Berufs Papa beim Sozialamt, die neun Kinder, die wie die Orgelpfeifen purzelten, litten später sehr unter seiner kreativen Betreuung, die älteste Schwester ehelichte einen Bauarbeiter, der später Polier wurde und sonst sein Leben in einem Sessel vor dem Fernseher verbrachte, die zweitälteste Schwester, eine total aufmerksamkeitsgeschädigte Person wurde von katholischen Nonnen in Mühlheim in der Hauswirtschaft beschult und ich und mein jüngerer Bruder Manfred gingen in die Volksschule und betutelten den Nachwuchs.
Mein Vater Rudolf, dem unsere Mutter jede Woche am Sonntag zum Frühschoppen das Essen in die Kneipe brachte verprügelte ihn und brachte die Scheidung auf den Weg.
Ich hatte mich indessen nach fast sieben Jahren an das Leben eines Flüchtlingskindes gewöhnt. Ich besaß vor meiner neuen Übersiedlung in den Westen, ein Plan unserer Mutter, achtzig Matchbox-Autos, mindestens 200 Mickey-Mouse-Hefte, zwölftausend Briefmarken, eine Sammlung die mein Vater angelegt hatte und über die ein Gerücht meines ältesten Bruder genährt wurde, es sei auch die gelbe Mauritius darunter.
Bedauernswert an meiner Umsiedlung im Spätherbst 1959 war, ich, Reinhardt Otto Hahn, musste meinen ersten guten Job in meinem Leben aufgeben. Ich war Zeitungsverkäufer geworden. Vier Jahre emsige Tätigkeit mit dem Verkaufen der Hör zu, der Neuen Illustrierten, dem Stern und natürlich der Bildzeitung. Die steckte ich vor der Schule in Briefkästen, den Rest verkaufte ich schreiend von Bordsteinkanten aus im Stadtteil Oppum am Bahnhof, in der Nähe der Johann-Heinrich-Wichern-Schule. Mein Erlös war beeindruckend, ein neues Fahrrad und die Marke Astor für meine rauchende Mutter Edith, die meine Geschäftstätigkeit lobte und zum Akkordeon und Klavierunterricht schickte, sprangen heraus. Nebenbei habe ich Akim der Dschungelheld, Mike Nelsons Abenteuer unter Wasser, Nick Knatterton und Tarzanhefte gelesen. Meinen größeren Bedarf deckte ich in der Oppumer Leihbibliothek ab und als ich das Dekamerone von Bocca Chio nach Hause trug und nachts mit der Taschenlampe mich durch die teils unverständlichen Episoden quälte, entdeckte mein Vater diese neue Leidenschaft und strafte mich mit dem Entzug der Leihbibliotheksbesuche.
In der 6, Klasse war es mit Naturlehre, Naturkunde, Biblische Geschichte, Katechismus und mit Deutsch und Rechnen vorbei, auch mit der Prügelstrafe. Abends um 20:00 Uhr setzte die Mutter uns in den Interzonenzug-Zubringer, der in Essen angekuppelt wurde und weiter ging die Reise in den Osten, meinem Vater nach, der nach Verhören durch die Staatssicherheit in Oranienburg, unsere Mutter darum bat, ihm, seine Kinder, in den Osten zu schicken, um dort einen Urlaub mit ihm zu verbringen.
Der Urlaub in der DDR dauerte 30 Jahre.
Mein Vater Rudolf heiratete eine blondierte Ostberlinerin, die im Ostbahnhof kellnerte und meinem Bruder und mir das Essen mit Messer und Gabel beigebracht hat. Ich weiß seitdem, was ein Menü und ein Spezi sind und „schwarzer Spargel“ aus dem Oderland weiß ist und lecker schmeckt. Danach lernte ich das Landleben in einer LPG Typ 1 kennen, weil in Ermangelung einer Wohnung mein Bruder und ich im tieferen Osten, in der Prignitz, bei dem Bruder des Vaters wohnen mussten.
Ich lernte die polytechnische Oberschuldbildung in der DDR kennen. Jetzt wusste ich, meine Schulfächer hießen in Wahrheit Chemie, Physik, Geometrie und Russisch, es war ein Bildungsgau für mich, hinten im Unterricht zu sitzen und auswendig zu lernen: „Nina, Nina, tam Kartina, eto traktor i motor“. Es ging auch nicht mehr am Montag in die Kirche zum Singen in Oppum, sondern der Fahnenappell richtete unsere Reihen aus und zackig grüßten wir den Mast in der Mitte mit Seid bereit.
Mein Leben verharmloseste sich eine gewisse, aber nur kurze Zeit. Erst frisst das Vieh, danach isst der Mensch, konnte meinen Hunger nicht überdröhnen.
Mein Vater starb, die Mauer wurde gebaut und mein Aufenthalt gestaltete sich etwas dauerhafter auf dem Lande bei Neuruppin. Mein Bruder und ich, wir wurden politische Vollwaisen, und unserer kleinen Schwester wurde, so stand es im ND wenige Tage vor dem Mauerbau, von willfährigen westdeutschen Kidnappingern von einer Ostberliner Straße weggeklaut und in den Westen geschleppt. Es war die Aktion der Westberliner Tante Christa, die eine jüngere Schwester unserer Mutter war.
Das sind die sogenannten Schicksalsschläge, die keiner ändern oder zurückdrehen kann.
Ich war gewillt, das zu ändern. Am 28.08.1962 (ausgerechnet zu Goethes Geburtstag) machte ich mich mit meinem Freund Wolfgang auf den Weg, in der Invalidenstraße in Berlin-Ost die Mauer zu erstürmen. Wir wurden festgenommen. Die Tatwerkzeuge legten unsere Absichten offenbar: Ein Taschenmesser, ein Stadtplan, indem Westberlin nicht eingearbeitet war und eine Schachtel Zigaretten.
Im VPKA (Volkspolizeikreisamt) prügelte man uns durch. Am nächsten Tag wurden mein Bruder und ich, (Geschwister trennt man nicht) nach Kyritz ins Heim gebracht. Das Glück, was mir beistand, war der Vater meines Freundes, er war Offizier der Volkspolizei. Aber, Wolfgang und ich, wir sahen uns erst 30 Jahre später wieder. Seinem Zeugnis verdanke ich eine kleine Opferrente. Mein Bruder Manfred versuchte es zwei Jahre später, über das Eis der Havel. Er erzählte mir später von der Blutspur auf dem Eis, als man ihn, nachdem er angeschossen wurde, über das Eis wieder an das Land des Sozialismus an den „Klamotten“ zurückgezogen hat. Er wurde nach Torgau gebracht und als renitenter Kerl dort zwei Jahre inhaftiert. Kaum wieder an der frischen Luft, verprügelte er ein Kommando der Volkspolizei. Natürlich brachte das auch keine Ehre ein, sondern einen sehr langen Aufenthalt in den Rüdersdorfer Kalkbrüchen. Er stellte Zement für den Aufbau der soz. Trabantenstädte Berlins her.
Insgesamt verbrachte er 11,5 Jahre in soz. Strafvollzugsanstalten. Daher ist meine Kenntnis, wenn auch bescheiden, über diese Häuser und die Wege dorthin doch als groß einzuschätzen. Torgau, Rüdersdorf, Oranienburg (auch), Brandenburg, Schwarze Pumpe und natürlich Bautzen, besuchte ich regelmäßig.
Ich indessen war 1968 mit Jugendtourist der DDR in Prag, sah dort das Übel der Konterrevolution, und ich beeilte mich, aus Harmoniegründen die roten Titten des Sozialismus zu lieben. Acht Jahre war ich Mitglied der stolzen SED. Man dekorierte mich mit Parteischulabschlüssen, auch mit Orden und auch mit der Aufforderung, im Politbüro des ZK Erichs Lied für ihn anzustimmen. „Unter Spaniens Himmel...“. Dafür hatte ich Verständnis, weilte doch der Honeckers während dieser Zeit in den 30-ziger Jahren im Zuchthaus Brandenburg. Spanien ist ja heute noch ein Sehnsuchtsort der Deutschen.
Mein Bruder war immer im Osten Deutschlands geblieben. 1990 nahm er einen anderen Namen an und tauchte in Leipzig unter. Das Ergebnis seiner Leidens- und Lebenszeit waren vier Kinder und seine Leidenschaft, als Hausmann seine Kinder zu behüten, von denen zwei Thomaner waren und alle mit dem Erlernen von klassischen Musikinstrumenten mehrere Professoren der Musikschulen und Universitäten verbrauchten. Herausragend war auch in dieser Zeit, er beteiligte sich niemals mehr an politischen Exzessen oder dergleichen.